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Remy Hadley
House
House
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Womit soll ich anfangen? Ich weiß es nicht. Es ist einfach zu viel passiert, als dass ich es in Worte kleiden könnte. Aber zumindest kann ich es versuchen. Normalerweise würde ich meine Gedanken niemals auf diese Art und Weiße aufschreiben, aber ich kann es nicht nur mit Alli alleine besprechen. Es geht einfach nicht. Und viele Freunde, denen ich mein Innerstes preisgeben würde, habe ich nicht gerade. Also fange ich dort an, wo ich es für richtig halte…

Ich wusste nicht was los war, wo ich war, oder was nicht stimmte. Mein Mund fühlte sich trocken an und ein vertrauter, und doch fremder Geruch lag mir in der Nase. Ich hatte keine Ahnung was passiert war. Meine Augenlider waren schwer wie Blei und jeder Versuch, sie zu öffnen, bereitete mir heftige Kopfschmerzen. Irgendwann gelang es mir dennoch. Gleißend helles Licht ließ mich aufstöhnen. Ich versuchte irgendetwas zu erkennen, doch bevor es mir gelingen konnte, legte mir jemand seine Hand auf die Augen. „Nicht. Versuchen Sie nicht die Augen zu öffnen, es bereitet Ihnen nur Schmerzen.“ Ich kannte die Stimme nicht. Sie hatte etwas Sanftes und ich spürte, dass ich ihr vertrauen konnte. Meine Fragen, die sich bei mir aufgeworfen hatten, waren dadurch jedoch trotzdem nicht geklärt. Ich versuchte etwas zu sagen, doch meine Lippen formten nur stumme Worte. Der Mann schien trotzdem zu verstehen. „Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten vor einer Woche einen Autounfall und waren seitdem bewusstlos.“

Ich denke jeder kennt es, morgens aufzuwachen, und das Gefühl zu haben, dass einem ein Arm oder ein Bein fehlt. Dann springt man aus dem Bett und schüttelt so lange, bis sich das Gefühl und die Sensibilität wieder einstellen. Bei mir war es nicht so. Meine Beine blieben taub und unbeweglich. Wirklich realisiert habe ich es erst nach ein paar Wochen, aber indirekt bewusst war es mir von der ersten Sekunde an gewesen. Als ich noch einmal ordentlich eingeschlafen war und mir am nächsten Morgen, sollte es denn überhaupt der Morgen gewesen sein, jemand einen Becher Wasser an die Lippen setzte, konnte ich meine müden Lider endlich aufreißen und schaute nach einer Weile ungläubig einem nett lächelnden Arzt ins Gesicht, was ich sofort an seiner Kleidung erkannte. Kurz und schmerzlos schilderte er mir die Lage. „Sie und Ihre Freundin hatten einen schweren Autounfall. Für Ihre Freundin ist er glimpflich ausgegangen, da sie nicht angeschnallt war und aus dem Wagen geschleudert wurde. Sie allerdings haben mehr abbekommen. Es tut mir Leid. Sie als Ärztin wissen, was es bedeutet, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass sie eine Querschnittslähmung des Grades B vom Becken abwärts haben. “ Ich wusste was es hieß, natürlich. Aber ich wollte es nicht wahr haben. Mir nicht eingestehen, dass diese Diagnose für mich galt. Sie veränderte mein komplettes Leben und das nicht gerade zum Positiven.

Im ersten Moment war es mir regelrecht egal. Ich fragte nur nach Alli. „Sie hat nur alle möglichen Prellungen und nichts Ernstes.“ „Kann ich sie sehen?“ Ich brauchte jemanden, an den ich mich jetzt klammern konnte. „Morgen. Wenn es Ihnen besser geht. Sie sind noch sehr schwach.“ Ich war enttäuscht. Ich wollte nicht warten. Nicht eine Stunde, nicht zwei, und schon gar nicht einen ganzen Tag. „Bitte.“ Mein flehender Gesichtsausdruck blieb an dem Arzt, der sich mir mittlerweile mit Dr. Michael Divon vorgestellt hatte, haften. „Also schön. Aber sie bleiben unter allen Umständen ruhig liegen!“ Ich versuchte zu nicken, doch es verursachte mir unheimliche Schmerzen, sodass ich einfach nur bejahte.

Wenige Minuten später erschien Alli im Türrahmen. Sie hatte, soweit ich es erkennen konnte ein vollkommen verweintes Gesicht. Wegen mir? Wegen ihr? Wegen jemand anderem? Waren wir die beiden einzigen im Auto gewesen? Ich konnte mich an absolut nichts mehr erinnern. Die Szene war wie ausradiert, unwirklich und nicht reell. Mit langsamen Schritten kam sie an mein Bett und strich mir nach einer Weile über die Hand. Ich genoss ihre Nähe. Die Nähe, die mir eine Freundin schenkte, die mir Halt gab, und die Angst und Einsamkeit vertrieb. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen und hob den Arm, um ihr über die Wange zu streicheln. Ich hatte Recht gehabt. Sie hatte geweint, denn ihr Gesicht war noch ganz feucht und klebrig. Ich trocknete es und schenkte ihr ein gequältes Lächeln. Sie erwiderte es, griff nach meiner Hand und legte sie auf der Bettdecke ab. Meine Augen fielen mir immer und immer wieder zu und ich hasste mich dafür. Allerdings konnte ich mich auch nicht dagegen wehren, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als sie geschlossen zu lassen.

Nach einer unendlich langen Zeit Schweigen, ergriff ich das Wort. „Es tut mir leid.“ Ich war der Meinung, dass eine Entschuldigung angebracht war. Wofür auch immer. So konnte man am besten in ein Gespräch einsteigen, zumindest erhoffte ich mir dies. „Was tut dir leid?“ Eigentlich wusste ich es nicht. Oder zumindest wollte ich es nicht aussprechen. Ich hatte Angst, dass die Unaufmerksamkeit auf der Straße durch meine Huntington ausgelöst worden war. Ich musste Gewissheit haben. „Was ist passiert?“ Ich zwang mich dazu, meine Augen zu öffnen und schaute Alli bestimmt an. Sie konnte mich nicht anlügen, wenn ich sie ansah. Nie. „Bin ich gefahren? Sag’s mir, bin ich gefahren?“ Sie drehte den Kopf zur Seite. „Ja, du bist gefahren.“ Meine Gedanken schlugen Purzelbäume. „War ich schuld an dem Unfall?“ Sie fuhr herum und sah mir direkt ins Gesicht. „Gott, das ist doch jetzt vollkommen egal! Du wärst beinahe gestorben! Ich dachte du würdest nicht mehr aufwachen!“ Ich wartete ab, bis sie sich beruhigt hatte und bekam meine Antwort nach kurzem Zögern. „Ja und nein.“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte und hoffte, dass sie von sich aus weitersprach. Sie presste sich die Hand an den Mund und ließ sich auf meine Bettkante fallen. Erschrocken sprang sie wieder auf und rief eine Entschuldigung. „Wofür entschuldigst du dich denn jetzt?“ „Ich… hab mich auf dein Bein fallen lassen.“ Ich musste lauthals lachen und schämte mich dafür. Die Situation war absolut nicht zum Lachen, und ich lachte auch nicht, weil ich irgendetwas lustig fand, oder glücklich war. Es war mehr ein Lachen im Wahnsinn, in einer völlig verzweifelten Situation. Alli schaute mich verstört an. „Tut mir leid.“ Rief ich immer noch vor Lachen gebeutelt. „Tut mir leid. Es ist nur… Ich hab’s nicht gemerkt, also… es macht nichts. Setz dich wieder hin.“ Zögernd ließ sie sich wieder nieder. Inzwischen hatten Tränen meinen Lachanfall abgelöst, übergangslos. „Soll ich weitererzählen?“ Ich nickte und griff mir an meinen schmerzenden Kopf. Erst als ich auf den weichen Mull stieß, bemerkte ich, dass ich einen Verband um den Kopf trug. Was denn noch alles, dachte ich mir. „Also… Es war auf der Autobahn. Vor uns hat’s irgendwie gekracht… und du konntest nicht mehr rechtzeitig reagieren, bevor wir mit auf den Haufen vor uns draufgeknallt sind. Ich hatte grade eine Flasche Wasser vom Rücksitz geholt und mich deshalb abgeschnallt. Bei dem Zusammenstoß ist die Tür aufgegangen und ich bin rausgeflogen. Dann weiß ich auch nichts mehr. Auf jeden Fall…“ Sie brach ab. Es tat mir sehr leid, sie so zu sehen. Sie musste den Unfall schrecklich in Erinnerung haben, doch für mich war dies besser, als sich an nichts mehr erinnern zu können. Ich musste die Augen erneut schließen. Verbittert kämpfte ich gegen die Müdigkeit an und riss sie wieder auf. „Ok, danke.“

Ich wollte sie in den Arm nehmen und trösten. Meine Hände stützten sich wie von selbst auf dem Bett ab und ich wollte meinen Oberkörper nach oben schieben. Dummerweise rührte er sich keinen Millimeter. In diesem Moment bekam ich eine irrsinnige Wut. Als Alli meine kläglich gescheiterten Versuche, mich aufzurichten, bemerkte, beugte sie sich nach unten und schob ihren Arm unter meine Schultern. Also doch Umarmung, aber im Liegen. Auch nicht schlecht. Im gleichen Moment fiel mir auch ein, dass ich Dr. Divon ja versprochen hatte, liegen zu bleiben… Naja, was soll’s.

Irgendwann kam er übrigens auch herein und schickte Alli nach draußen. Ich versuchte sie am Arm festzuhalten, um sie zum Bleiben zu bewegen, doch meine Finger konnten sie nicht festhalten, sondern rutschten ohne jeglichen Widerstand einfach ab. Der Arzt meinte ich solle noch schlafen. Zwar war ich todmüde, ganz so, als ob ich nächtelang nicht geschlafen hätte. Dabei war ich eine ganze Woche im Land der Träume gewesen. Aber ich wollte jetzt nicht schlafen. Ach ja, Alli hatte mir übrigens noch gesagt, dass wir im Lenox Hill Hospital in New York sind. Schöne Lage. Drei Querstraßen weiter befand sich der Centralpark. Alli meinte vorhin, dass man ihn von meinem Fenster aus sogar sehen kann. Nur dumm, wenn man nicht aufstehen darf bzw. kann. Es ist belästigend und macht mir auch Angst. Wenn man nicht weiß, was einen erwartet, dann ist dies sehr beängstigend.

Jetzt fand ich auch das erste Mal die Zeit, mich genauer in meinem Zimmer umzusehen. Rechts vorne war die Tür und gleich daneben ein kleines Waschbecken. In der anderen Ecke stand ein Rollstuhl… Wenn ich daran dachte, dass ich für den Rest meines Lebens, was nun wirklich nur mehr ein paar Jahre waren, an ihn gebunden war, schauderte mir. Links vom Bett war ein riesiges Fenster, von dem aus man wahrscheinlich wunderbar weit über die Stadt schauen konnte. Neben meinem Bett stand der Nachttischschrank mit einem Telefon und einem Blumenstrauß, bei dem ich mich schon die ganze Zeit fragte, von wem er wohl war. Auf der anderen Seite vom Bett standen die Geräte, mit denen ich überwacht wurde und die ganzen Ampullen mit den Infusionen. Ich schaute an mir herunter und überlegte, ob es noch eine Stelle gab, in der noch keine Nadel oder kein Schlauch steckte. Den Anschein hatte es zumindest nicht. Meine Arme waren schon blau geworden, von den ganzen Einstichen.

Meine Langweile vertrieb ich, indem ich die viel zu langsam tropfende Infusion beobachtete… Allerhöchstens aller fünf Sekunden kam ein Tropfen. Entweder waren die Medikamente so stark, oder ich sah aus, als ob ich nichts vertragen könnte. Diese Antwort ist bis heute noch offen geblieben. Auf jeden Fall konnte ich einfach nicht mehr schlafen. Mein Rücken schmerzte, da ich die ganze Zeit nur in einer Stellung gelegen hatte. Ich versuchte mich also auf die Seite zu drehen, aber allein mit dem Oberkörper konnte ich diese Kraft nicht aufbringen. Zudem wurde die so schon langsame Infusion bei jeder Bewegung meinerseits unterbrochen. Wegen einem umgeknickten Schlauch oder was auch immer. So blieb mir nichts anderes übrig, als einfach so liegen zu bleiben, wie ich lag. Aber schlafen war so ausgeschlossen. Daher schloss ich einfach nur die Augen und wartete ab.

Irgendwie schien ich doch eingeschlafen zu sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel draußen. Mein Abendessen stand auf dem Tisch und war noch abgedeckt. Sehr ausgeklügelt war das nicht gerade… Wie hätte ich sollen zum Tisch kommen? Und noch genialer war: Die Klingel baumelte über meinem Kopf an einer Stange… Wie sollte ich da rankommen. Mal davon abgesehen, dass ich meine Hände vor Erschöpfung nicht heben konnte, wäre ich nicht einmal mit ausgestreckten Armen drangekommen, da mein Bett vollkommen flach eingestellt war. Wenn ich mir alles so durch den Kopf gehen ließ, machte ich mir ernsthafte Gedanken. Hatten wir im Princeton Plainsboro auch so undurchdacht eingerichtete Zimmer? Es erschreckte mich, dass ich mir darüber plötzlich Gedanken machte, jetzt, da es mich selbst betraf.

Stunden später kam ein Arzt. Mir drehte es schon fast den Magen um. Anscheinend war unter den tausenden von Infusionen keine PE mehr dabei, sodass ich von irgendwo her etwas ‚richtiges‘ zu essen bekommen musste. Er fragte mich doch tatsächlich, warum ich noch nichts gegessen hatte. Naja, aber immer schön höflich bleiben. Inständig hoffte ich, dass Alli noch einmal kommen würde, aber ich war mir bald nicht mehr so sicher, da es schon relativ spät zu sein schien. Bevor der Arzt ging, überwand ich mich und fragte, ob er mir helfen könnte, mich auf die Seite zu drehen. Ich hasste es, andere Menschen um Hilfe zu bitten, aber mir war mittlerweile klar, dass ich dies in nächster Zeit öfters würde tun müssen. Seine Antwort lautete nein, es wäre zu riskant die so schon geprellte Wirbelsäule noch mehr zu strapazieren. Ich solle doch bitteschön einfach liegen bleiben. Als er verschwunden war, versuchte ich es also auf eigene Faust, denn inzwischen waren die Rückenschmerzen schlimmer, als alles andere. Die Ärztin in mir schrie, doch es interessierte mich nicht. Ich schlug die Bettdecke zurück und zerrte an meinen Beinen, aber ich war einfach noch zu schwach, als dass ich mich hätte ohne Hilfe drehen können. Vollkommen fertig ließ ich mich in mein Kissen sinken. Vor wenigen Tagen noch, hätte ich es mir nicht im Traum vorstellen können, dass mir das Umwenden im Bett einmal solche Schwierigkeiten bereiten könnte.

Die gesamte Nacht lag ich wach. Immer wenn die Schmerzen zu heftig wurden, ruckelte ich ein bisschen hin – und her, um meine Glieder zu lockern, was aber keine fünf Minuten anhielt. Als es endlich draußen dämmerte, war ich selig. Schon bald stand ein Arzt im Zimmer, der die Geräte checkte und mir eine Pressspanplatte, die er als Brotscheibe bezeichnete, brachte. Egal wie es schmeckte, ich schlang es hinunter und hatte noch immer Hunger. Meine Güte… Ich hatte doch keine Pankreatitis oder sonstige Magenkrankheiten! Ich hatte eine Woche nichts Richtiges gegessen, und bekam jetzt nur zwei ‚Brotscheiben‘ am Tag. Mein Magen knurrte. Trotz der schlaflosen Nacht fühlte ich mich vollkommen ausgeruht, und wäre am liebsten aus dem Bett gesprungen und zu Alli gerannt. Aber immer wenn ich mir die Bettdecke zurecht zog, erinnerte mich das darauffolgende Herzrasen wieder und wieder daran, dass ich ganz und gar nicht fit war.

Zur Visite testete der Arzt meine Restsensibilität, indem er mir eine Nadel in den Fuß stach, die üblichen Tests eben. Dann wechselte er den Verband an meinem Kopf. Was ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, war was überhaupt mit meinem Kopf los war. Wahrscheinlich war die Verletzung so geringfügig, dass sie in keinem Verhältnis zu den anderen Leiden stand. Ich fragte trotzdem. „Nur eine Platzwunde. Naja, und eine leichte Gehirnerschütterung, die ja wohl zu erwarten war.“ Ja, natürlich. Alles drum und dran eben. Ich fragte auch diesen Arzt noch, ob ich mich im Bett drehen könne, woraufhin dieser ebenfalls Nein als Antwort gab. Ich sagte ihm, dass mich die Rückenschmerzen im Moment am meisten rasend machen würden, aber darauf ging er gar nicht erst ein.

Nach dem Mittagessen, was aus einer Schüssel Suppe bestand, weil alle im Krankenhaus anscheinend der Meinung waren, dass ich zu dick bin, kam endlich Alli. Ihre blonden Haare fielen ihr bis über die Schultern, was für mich ungewohnt war, da sie normalerweise einen Pferdeschwanz trug. In ihrem bequemen Morgenmantel ließ sie sich auf mein Bett sinken und lehnte sich zurück. Wir sprachen kaum, doch allein ihre Nähe tat mir gut und ich genoss jede Sekunde, in der sie bei mir war.

Nach drei weiteren Tagen durfte ich mich endlich ein wenig bewegen. Und nach einer weiteren Woche sogar aufstehen. Das heißt: Das Bett verlassen. Alli war schon lange entlassen worden und arbeitete wieder, kam aber fast jeden Tag, um mich zu besuchen. Als ich also am Fenster saß und auf den Centralpark hinausschaute, überkam mich ein Gefühl der Sehnsucht. Es regnete wie aus Eimern und das satte Grün der Bäume und Sträucher versprach einen frühlingshaften Duft. Eigentlich zog es mich nie nach draußen, doch wenn man immer das gleiche Grau des Zimmers sieht, und sich langweilt, dann scheint ein Ausflug ins Grüne wie ein Geschenk. Aber ich durfte das Krankenhaus nicht verlassen, auch nicht für eine Runde durch den Park.

Mein Physiotherapeut meinte, dass ich vielleicht, wenn schon nicht laufen, zumindest meine Beine wieder bewegen könnte. Ich glaubte nicht daran, da ich das Gefühl hatte, als ob ich gar keine Beine mehr hätte. Manchmal macht mich dieses Taubheitsgefühl wahnsinnig. Ich würde dann am liebsten aufspringen und… ach, keine Ahnung. Aber selbst wenn, was würde es mir nützen? Solange ich nicht laufen kann, kann ich auch nicht arbeiten, zumindest nicht die Arbeit, die ich liebe und schätze. Warum also darauf hoffen?

Aber jetzt genug vom Krankenhaus. Ich mache mal weiter, als ich entlassen wurde.

Alli holte mich ab… natürlich! Wer hätte es sonst machen sollen? Ich hatte weder Verwandte noch andere Freunde, denen ich hätte Bescheid geben können. Ich hatte ewig unten in der Eingangshalle gewartet. Später erklärte sie mir, dass sie im Stau gestanden hatte. Ich bewunderte sie dafür, welche Geduld sie mit mir hatte. Ich könnte eine Solche nicht aufbringen, da war ich mir sicher. Vor einer Rehabilitation hatte ich mich strikt geweigert. Ich wollte hier bleiben, bloß nicht weggehen. Von mir aus käme ich jeden Tag ins Krankenhaus, um alle möglichen Therapien über mich ergehen zu lassen, aber bloß nicht in die Reha-Klinik überweisen!

Auf der Heimfahrt schaute ich Alli nur gelegentlich an. Wir sprachen kaum und ich starrte die meiste Zeit einfach nur aus dem Fenster. Wir hatten uns gestritten, wegen der Sache mit der Reha. Ich hasste es, wenn wir uns stritten, aber es war einfach nicht zu umgehen gewesen. Sie bestand darauf, dass ich mich überweisen ließ, doch mit diesem Gedanken konnte und wollte ich mich nicht anfreunden.

Lange waren wir glücklicherweise nie zerstritten. Bereits bei der Ankunft an ihrer Wohnung, lagen wir uns schon wieder in den Armen. Vorrübergehend würde ich bei ihr wohnen, was wir uns schon im Krankenhaus ausgemacht hatten. Zumindest so lange, bis ich mich halbwegs in die Situation hineingefunden hätte. Ich glaubte nicht, dass es je dazu kommen würde. Ich würde mich nie daran gewöhnen. Ich war immer darauf bedacht gewesen, unabhängig zu sein. Meine Unabhängigkeit, meine Freiheit, meine Selbstständigkeit. Die drei wichtigsten Dinge in meinem Leben. Wie sollte ich diese nun weiterverfolgen können?

Die Vormittage, an denen Alli arbeiten war, wollten einfach nicht vergehen. Wenn sie nachts Bereitschaft hatte, konnte ich generell nicht schlafen. Ich lag dann ewig wach, starrte an die Decke und grübelte. In letzter Zeit grübelte ich immer sehr viel. Es ist schon erschreckend, welche Angst man sich selbst machen kann. Wenn man sich ganz genau sein Leben, sein Tun und seinen Stand vor Augen führt, dann möchte man am liebsten seinem Leben selbst ein Ende bereiten. Und wenn man auch noch die Zeit zum Nachdenken hat, so wie ich, dann kann man leicht in den Wahnsinn abdriften. Ich brauchte also dringendst eine Ablenkung. Und diese fand ich bald schon in der Küche. Ich bereitete jeden Tag das Essen vor und deckte den Tisch ein, sodass Alli nur noch die Beine drunter stecken musste, wenn sie nach Hause kam. Oftmals war ich kurz vorm Verzweifeln gewesen… Etwa wenn das Gewürz, was man braucht, auf dem obersten Regalbrett steht. Nachdem ich mich, nach dem kläglich gescheiterten Versuch mich am Schrank entlang zu hangeln, auf dem Küchenboden wiedergefunden hatte und dort lag, bis Alli kam, hatte sie mir alle Experimente dieser Art strikt verboten. Und daran würde ich mich auch halten, da konnte sie sich sicher sein. Auch wenn ich es gern noch ein paar Mal versucht hätte… Ich unterließ es dann doch lieber.

Natürlich saß ich auch nicht den ganzen Tag zu Hause. Schließlich musste ich ja zu den heiß geliebten Therapien, die meiner Meinung nach gar nichts einbrachten. Mein körperlicher Zustand blieb auch nach einem Monat unverändert und ich war es leid zu warten. Man kann sich nicht vorstellen, wie ermüdend es ist, wenn man immer und immer wieder gesagt bekommt, man müsse Geduld haben. Ich war nie ein besonders geduldiger Mensch gewesen, aber in diesem Falle hatte ich mich angestrengt, mir richtig Mühe gegeben. Anscheinend gab es immer noch Leute, die glaubten, ich wäre nur zum Zeitvertreib jeden Tag von Neuem ins Krankenhaus gefahren. Aber dies stimmte nicht im Geringsten: Ich versuchte einfach alles, damit sich eine Besserung einstellte, aber es half nichts. Ich hielt die Terminpläne ein, kam zu jeder Behandlung und führte auch zu Hause die Krankengymnastik-Übungen durch. Irgendwann, ich glaube es war nach 5 Monaten, verlor ich die Lust und die Kraft dazu. Es kostet unglaublich viel Kraft immerzu zu hoffen und zuversichtlich zu sein und vor allem zu warten. Ich konnte einfach nicht mehr, ließ mich gehen. Meine sensiblen Nerven in den Beinen waren sowieso so gut wie hinüber, ganz zu schweigen von den motorischen Fähigkeiten, die ich ganz eingebüßt hatte. Es wurde nicht schlimmer, aber es stellte sich auch keine Besserung ein.

Also begann ich, mich in mich zurückzuziehen, schirmte mich von der Umwelt ab und aß nichts mehr. Ich wollte nichts mehr sehen oder hören, ging gar nicht mehr auf die Straße, und stand nur noch aus dem Bett auf, wenn Alli mich förmlich dazu zwang. Es machte ihr sehr zu schaffen und dies tat mir in der Seele weh, da sie sich solche Mühe mit mir gab und eigentlich rund um die Uhr für mich da war. Aber ich hatte einfach keine Freude mehr in meinem Leben, dazu konnte auch sie nichts beitragen. Als wäre ich mit meiner Huntington nicht schon genug gestraft gewesen, musste nun auch noch der Unfall hinzukommen. Seitdem konnte ich nicht mehr arbeiten gehen.

Eines Tages kollabierte Alli. Es war an einem Donnerstagmorgen, kurz bevor sie zur Arbeit fahren wollte. Irgendwann musste es dazu kommen, da sie kaum noch schlief und dafür den ganzen Tag arbeitete, oder sich mit mir abgab. Ich saß auf der Bettkante, da ich gerade dabei war, aufzustehen und sie war im Flur gewesen, als es passierte. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. An den Rollstuhl kam ich ohne Hilfe nicht heran und das Telefon lag noch im oberen Stockwerk, wo ich sowieso nicht hin gelangte. Also probierte ich die einzige Möglichkeit aus, die ich hatte. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, stützte mich auf der Bettkante auf, konzentrierte mich und stand auf. Es kam, was kommen musste: Meine Beine knickten einfach unter meinem Körper weg. Versuch eins war damit gescheitert. Aber damit gab ich natürlich nicht auf. Mit all meinen Kräften zerrte ich mich an allen möglichen Schränken und Stangen vorwärts, bis ich es schließlich bis zu Alli hinaus geschafft hatte. Ich zog meine Sweat-Jacke aus und schob sie ihr unter den Kopf, während ich nach ihrem Puls tastete. Er war nur schwach zu spüren, ging dafür aber sehr schnell. Niedriger Blutdruck. Ohne lange zu fackeln, zog ich das kleine Schränkchen, was neben der Badezimmertür stand, heran und lagerte ihre Beine hoch. Nach wenigen Minuten kam sie zu sich und schaute mich ungläubig an. Ich hatte mich mittlerweile neben sie auf den Boden gelegt, da ich mit meinen Kräften vollkommen am Ende war. Erschrocken richtete sie sich auf, wobei sie sich den Kopf hielt. Das Karussell, was sie da wohl sah, kannte ich nur zu gut. Mit letzten Kräften richtete ich meinen Oberkörper auf und lehnte mich an die Wand. „Du bist ohnmächtig geworden.“ Da ich inzwischen mehr als genau wusste, wie furchtbar es war, wenn man sich an nichts erinnern konnte, klärte ich sie in dem kurzen Satz auf. „Und wie bist du hier rausgekommen?“ Abweisend schüttelte ich den Kopf. „Frag gar nicht erst.“ Als sie sich ein wenig erholt und ein Glas Wasser getrunken hatte, half sie mir hoch und rief im Krankenhaus an, dass sie nicht zur Arbeit kommen würde.

„Wirst du wieder zu den Behandlungen gehen?“ Ich hatte mir die Frage anfangs oft selbst gestellt, doch ich war auf keine Einigung meines Willens und meines Gewissens gekommen. „Ich denke, dass es einfach nichts nützt. Sieh mal… Ich spüre kaum, wenn ich mir kochendes Wasser über die Beine gieße, ganz zu schweigen von irgendeiner Restmotorik.“ Ja, ich hatte mir kochendes Wasser über die Beine gegossen. Beim Nudeln kochen. Zwar tat es nicht weh, man sollte es aber nach Möglichkeit trotzdem unterlassen, da sich danach die Haut in ganzen Streifen von den Beinen ablöst. Immer wenn ich es für irgendwen wiederholte, klangen meine Ausführungen so sachlich, doch wenn ich allein war, kamen wieder und wieder die Zweifel und ich bekam Angst vor mir selbst. „Komm schon, mach es mir zu liebe!“ Ich konnte ihr einfach nicht widersprechen. Sie hatte zu viel für mich getan, als dass ich ihr diese Bitte hätte abschlagen können. „Also schön, ich werde wieder an den Therapien teilnehmen.“ Vor Freude gab sie mir einen Kuss auf die Wange und strahlte mich an, als ob ich ihr das größte Geschenk der Welt gemacht hätte. Eigentlich war es mehr eine Gabe für mich, doch sie war so glücklich darüber, dass sie mich mit ihrem Lächeln ansteckte und wir schon bald in schallendes Gelächter ausbrachen. Es war wie in früheren Zeiten. Noch in Zeiten lange bevor ich überhaupt wusste, dass ich todkrank bin. Es war ein Genuss. Ein ewig zurückgehaltenes Verlangen nach Freude kehrte zurück und schoss nur so aus uns heraus. Und es sollte in den nächsten Wochen sogar noch besser kommen…

Die Therapien waren weiterhin anstrengend und zehrten schnell an meinen Kräften. Doch ich hielt durch. Diesmal wollte ich unter keinen Umständen wieder alles hinschmeißen. Denn vor allem wollte ich eines: Meine Selbstständigkeit zurückgewinnen.

An einem Tag, als meine Behandlung nachmittags stattfand, holte Alli mich ab, um nachher mit mir essen zu gehen. Wir waren keine reichen Leute, und gingen in ein ganz einfaches Restaurant, wo es uns dennoch super gefiel. Wir aßen dort schon jahrelang zusammen und hatten unseren ganz persönlichen Stammplatz. Wenn man herein kam, musste man links um die Ecke gehen. Wenn man sich direkt nach dem Tresen noch einmal nach links wendete, befand sich in der Wand eine kleine Nische, in der ein Holztischchen mit einer Eckbank drum herum stand. Unser Tisch. Es war sehr gemütlich dort und meist vergaßen wir die Zeit, wenn wir einmal dort saßen und plauderten. Ich schob mich also auf die eine Seite der Eckbank, Alli auf die andere und wir bestellten unsere Lieblingsspeisen. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, war, dass an jenem Abend eine ganz besondere Veranstaltung stattfand. Es gab einen bunten Tanzabend, an dem jeder teilnehmen konnte, und zu dem sogar berühmte Tänzer eingeladen waren, über die die Leute überall sprachen und schwärmten.

Als gegen 9 Uhr also die Tür aufging und ein ganzer Schwarm wunderschön gekleideter Tanzpaare hereinkam, war die Überraschung natürlich groß. Wir beide freuten uns über das Glück, was wir hatten und blickten die Tänzer mit strahlenden Augen an. Mich stimmten sie leider auch ein wenig traurig und ich schaute ihnen sehnsüchtig zu, wie sie wie Federn zum langsamen Walzer übers Parkett schwebten. So leichtfüßig und elegant, als ob sie Engel wären. Nachdem die Tänze stattgefunden hatten, wurde die Tanzfläche für alle Anwesenden freigegeben. Sogar mit den Profitänzern konnte man das Tanzbein schwingen. Schon bald stand ein strammer Amerikaner an unserem Tisch und bat eine von uns zum Tanzen. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und rief Alli entgegen, sie solle sich trauen. Irgendwann ließ sie sich dann auch breitschlagen und erhob sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, dass sie so wunderschön tanzen konnte. Ich erkannte sie kaum wieder und ihr Tanzen glich dem der Professionellen von vorhin.

Ich beobachtete das Paar und verfolgte mit meinen Augen jeden ihrer Schritte. Daher bemerkte ich nicht, dass sich jemand an unseren Tisch stellte. „Darf ich bitten?“ Ein junger Mann mit strahlend weißen Zähnen stand direkt vor mir und verbeugte sich wie ein echter Gentleman, den man aus alten Filmen kannte. Zu gerne hätte ich Ja gesagt, aber was dann? „Nein, tut mir leid, ich tanze nicht.“ Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen, da ich so einen Drang hatte, mich einfach gehen zu lassen. Ich war immer eine gute Tänzerin gewesen und hatte sogar spät abends nach Feierabend noch die Tanzschule besucht. Auf keinen Fall hätte ich ihm sagen können, dass ich nicht einmal Laufen kann, geschweige denn Tanzen. Aber so schnell wurde ich ihn zu meinem eigenen Unglück auch nicht los. „Ich bitte Sie, nur ein Tanz.“ Ich schüttelte erneut den Kopf „Ich kann nicht tanzen. Ich beherrsche die Schritte ja gar nicht.“ Ich schwindelte nicht gern. Er ließ noch immer nicht von mir ab, sondern schwang sich stattdessen mir gegenüber auf die Eckbank. „Jeder kann tanzen. Es ist ganz leicht. Man fühlt die Schritte einfach. Hier drinnen.“ Er deutete mit der Hand auf sein Herz. Wenn es so leicht wäre, dachte ich mir. Und es ist ja auch so leicht, und doch unerreichbar für mich. „Verzeihung, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt: Paolo Bariello.“ Ein Italiener. „Remy Hadley.“ Es war mir sehr peinlich, zumal alle möglichen Leute zu uns herüber starrten. „Ich bitte Sie, es gibt so viele andere Frauen, die gerne mit Ihnen tanzen würden und Sie vergeuden Ihre Zeit hier bei mir.“ Wie gerne hätte auch ich mit ihm getanzt. „Ich möchte nur mit Ihnen tanzen, Signorina.“ Aus der prekären Situation half Alli, die gerade von ihrem Partner an ihren Platz zurückgeführt wurde. „… Und wir müssen jetzt auch gehen, stimmt’s Allison?“ Ich blickte ihr mit einem vielsagenden Blick in die Augen. „Müssen wir? Ja, achso… Ich muss… arbeiten. In der Spätschicht.“ Der nette Italiener gab, freundlich lächelnd, noch immer nicht auf. „Dann fahren Sie doch schonmal nach Hause oder auf die Arbeit, oder was sie so Wichtiges zu tun haben und ich werde derweil mit Signorina Remy tanzen.“ Erst jetzt verstand Alli mein Dilemma. Meine flehenden Augen sprachen Bände. „Wir haben bedauerlicherweise nur ein Auto.“ Endlich gab er auf und verabschiedete sich, trotz der Niederlage, mit einem Handkuss bei uns beiden. Ich war innerlich hin – und hergerissen. Auf der einen Seite war ich froh, dass er endlich aufgegeben hatte, da er mich auf keinen Fall im Rollstuhl sehen sollte. Doch zum anderen wusste ich, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Und dieses Wissen riss mir beinahe das Herz aus der Brust.

Als wir zu Hause ankamen, ging ich schweigend in mein Zimmer. Ich vermisste ihn jetzt schon. Alli gegenüber wollte ich mir dies natürlich nicht anmerken lassen, da ich wusste, wie sie darauf reagieren würde. Sie hatte mir immer und immer wieder gesagt, dass ich unbedingt eine feste Beziehung bräuchte. Wenn ich ihr also nun gesagt hätte, dass ich ihn so klasse fand, hätte sie ihn glatt eingeladen. Paolo Bariello. Zumindest kannte ich seinen Namen noch. Wenn ich also doch wiedersehen wollte, brauchte ich bloß… Ach was! Mir erschienen diese Überlegungen zwecklos, daher griff ich zu meinem Buch und las, bis ich zu müde wurde.

Als ich am nächsten Morgen im Krankenhaus saß und darauf wartete, dass House endlich Zeit für mich fand, damit ich ihm endgültig meine Kündigung geben konnte, dachte ich, ich würde träumen. Der Tänzer stand mitten im Raum in der NA. Genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte: Strahlend weiße Zähne, dunkle Haut, schwarze Haare, braune Augen und ein wunderschönes Lächeln. Glücklicherweise saß ich auf einem Stuhl, sodass er meine Misere nicht sehen konnte. Alli wollte mich später holen. Zu meinem Glück, oder auch Unglück, je nachdem von welchem Standpunkt aus man es betrachtete, entdeckte er mich und kam lächelnd auf mich zu. „Signorina Remy!“ Freundlich lächelnd gab er mir die Hand. Mein Herz raste, und ich hatte Angst, dass er es hören könnte. „Was tun Sie denn hier?“ Fragte ich schüchtern und verwirrt zugleich. „Ahh.. nicht schlimm. Meine Partnerin hat sich nur den Knöchel verstaucht.“ Ich bewunderte seine Gelassenheit. Er war einfach die Ruhe in Person. Ich konnte so etwas nie, konnte nicht stillsitzen, musste immer irgendetwas tun und bekam immer die Panik, wenn etwas nicht so lief, wie es sollte. „Schön, dass nichts Schlimmeres passiert ist.“ Ich wusste selbst nicht, welchen Blödsinn ich da erzählte. Aber es war auch egal, als er fragte, ob er mir seine Partnerin vorstellen dürfe. „Nein, ich ähh… Muss hier auf jemanden warten.“ „Ich bitte Sie! Sie sitzt gleich da drüben. Ich könnte sie auch holen, aber sie kann ja grade nicht so gut laufen.“ Ja, dachte ich. Sie kann schlecht laufen, du gar nicht. Was ist jetzt besser? Nervös spielte ich an meinen Fingernägeln herum. „Wollen Sie heute Abend mit mir essen gehen?“ Völlig unerwartet kam die Frage und ich begann irgendetwas vor mich hinzumurmeln. „Nein, ich kann nicht. Tut mir leid.“ Er sah sehr enttäuscht aus. Meine Seele brannte. Ich wollte mit ihm ausgehen, ich wollte es so sehr, aber dann müsste ich ihm die Wahrheit sagen. Nach einem langen Hin und Her, fasste ich mir ein Herz. „Ich… kann nicht laufen.“ Betreten schaute ich vor mir auf den Boden. Es war mir so peinlich, so unendlich peinlich. Aus heiterem Himmel kniete er vor mir nieder und legte seine Hände auf meine Beine. Normalerweise hätte ich mich gewundert, was das für ein Anstand ist, doch ich ließ ihn gewähren und genoss es einfach. Völlig überraschend sagte er zu mir „Und das soll mich stören? Erlauben Sie mir bitte, mit Ihnen essen gehen zu dürfen, Signorina Remy?“ Die Frage kam unerwartet und ich bejahte plötzlich, von meiner inneren Stimme gelenkt. Es war so befreiend, wenn man nichts mehr verstecken musste und ich konnte nicht anders, als ihm lächelnd über die Hand zu streichen, die er noch immer auf meinen Beinen ruhen hatte. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Glücklicherweise wusste ich auch, dass ich nicht so schnell rot wurde, und man mir Verlegenheit nur schwer ansehen konnte. „Ich hole Sie um acht Uhr ab. Sind Sie damit einverstanden?“ Mir war plötzlich alles egal, also gab ich ihm Allis Adresse und er verabschiedete sich wieder mit einem Handkuss. „Bis heute Abend, Signorina Remy!“

Ich sah ihm nach und war einfach nur unsagbar glücklich. Was mich noch mehr erlöste, war, dass er keine Fragen gestellt hatte. Er hatte es einfach hingenommen, die Wahrheit wie selbstverständlich aufgefasst. Zum ersten Mal, seit einer grausam langen Zeit spürte ich etwas wie Liebe und Zuneigung und ich genoss es. Ich wurde plötzlich ganz hibbelig und konnte eigentlich gar nicht mehr bis zum Abend warten. Dass ich kündigen wollte, hatte ich in dem ganzen Durcheinander schon längst wieder vergessen. Als ich auf die Uhr schaute, bekam ich erst einmal einen Schock: Mein Physiotherapeut wartete schon seit 15 Minuten auf mich! Etwas bestürzt überlegte ich, wie ich an den fünf Meter entfernt stehenden Rollstuhl herankommen sollte und entschied mich schließlich, wenn auch nur ungern, dafür, eine Schwester heranzuwinken, die mir auch sogleich half.

Als sich im oberen Stockwerk die Fahrstuhltür öffnete, stand Dr. Cherainy davor. „Gerade wollte ich mich auf die Suche machen.“ Schelmisch lächelnd packte er die Griffe am Rollstuhl und schob mich in den Behandlungsraum. „Tut mir leid. Ich hab mich ein bisschen verquatscht.“ „Schon gut. Fangen wir einfach an. Irgendeine Besserung?“ Ich konnte die Frage nicht mit Ja beantworten und wurde auf grausame Weise wieder an die Realität erinnert. Er bemerkte meine Enttäuschung und legte seine Hand auf meine Schulter. „Ohne Reha dauert es eben seine Zeit. Es sind doch erst neun Monate…“ Ich schloss die Augen und lachte bitter. Erst! Erst neun Monate! Aber mir blieb keine Zeit mehr, noch länger darüber nachzudenken, denn Alexander begann mit den Übungen. Eigentlich war es mehr Kopftraining, als irgendetwas anderes, denn ich konzentrierte mich wie verrückt darauf, meine Muskeln anzuspannen, ohne jeglichen Erfolg verzeichnen zu können. Stöhnend gab ich auf und schüttelte den Kopf. „Was soll das? Es… Bringt einfach nichts!“ Ich war wütend auf mich. Die erste Zeit ist man enttäuscht, dann fängt man bei jedem Misserfolg an zu heulen, und danach ist man einfach nur noch wütend. Jemand, der nicht mit so etwas belastet ist, kann sich einfach nicht vorstellen, auf seine Beine zu schauen und nichts passiert, wie sehr man sich auch anstrengt. Es ist ein furchtbares Gefühl, da man weiß wie es geht, aber nach einer so langen Zeit scheinen die Muskeln zu vergessen, wie es funktioniert. „Nicht gleich aufgeben. Komm schon, du schaffst das.“ Ja, wir duzten uns. Wenn man sich über einen so langen Zeitraum jeden zweiten Tag sieht, dann ergibt sich das einfach. Ich nenne ihn Alex, er mich Remy. So einfach ist das. „Zieh mal dein Hosenbein ein Stück hoch.“ Ich tat, was er sagte, auch wenn ich mich fragte, was das werden sollte. Er legte seine Hand auf mein Bein. „Mach die Augen zu und konzentrier dich. Spürst du die Wärme meiner Hand?“ Ich fühlte gar nichts. Nicht das Geringste. „Nein.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Sein Blick ging ins Leere und er nahm seine Hand fort, zog mein Hosenbein wieder herunter. Er hatte erwartet, dass ich Ja sagen würde, das wusste ich wegen seiner Reaktion. „Ok. Ich mach mit der Gymnastik weiter.“ Ich nickte und ließ mich mit einer geschickten Drehung, die ich gelernt hatte, aus dem Rollstuhl auf die Bodenmatte gleiten und stützte mich mit den Händen ab. Ohne sie hatte ich keinen Halt, da ich seit dem Unfall vom Becken abwärts gelähmt war. Alex fing an, meine Beine zu beugen und wieder zu strecken und ich versuchte wie immer, eigenständig mitzumachen, was allerdings keinerlei Ergebnis brachte. Als wir mit allem fertig waren, auch mit dem Trainieren meines Oberkörpers, um mir eine gewisse Beweglichkeit zu erhalten, lag ich vollkommen ausgepowert auf der Matte. „Du quälst dich.“ Stellte Alex nach einigen Minuten fest. „Glaubst du das hier ist einfach für mich?“ Ich klang genervter, als ich eigentlich war. „Nein, natürlich nicht. Was ich meine, ist, du versuchst auf Krampf irgendetwas zu erreichen. Du hast Angst vor einer Niederlage, einem Misserfolg und willst mit aller Macht ein Erfolgserlebnis erzwingen. Aber das geht nicht. Hier funktioniert alles Schritt für Schritt und nicht anders. Solange du das nicht einsiehst, wirst du nie wieder laufen lernen.“ Seine Worte erwischten mich mitten im Herzen, denn er hatte mit allem recht, was er sagte. Augenblicklich schossen mir die Tränen in die Augen und er zog mich von der Matte hoch und nahm mich in den Arm. „Ich kann nicht mehr. Nicht mehr geduldig bleiben und warten. Das ganze Leben besteht aus Warten! Warten, worauf? Darauf, meine kognitiven und geistigen Fähigkeiten zu verlieren? Auf den Tod? Warten ist unheimlich ermüdend! Und ich bin es leid!“ Es war mir noch nie passiert, dass ich mich in der Öffentlichkeit so vergessen hatte, doch Alex war mir inzwischen so etwas wie ein Freund geworden. Er redete mit einigen netten Worten auf mich ein und wartete ab, bis ich mich beruhigt hatte. Dann griff er mir unter die Kniekehlen und hinter den Rücken und trug mich zum Rollstuhl, den er vorher vorsorglich zur Seite geschoben hatte, damit ich mich bei den Übungen nicht daran verletzte. Dann kniete er sich noch einmal vor mich hin und ergriff meine Hände. „Es wird alles gut, wenn du nur daran glaubst. Bitte gib nicht auf!“ Dann entließ er mich. Seine Worte hatten mich nachdenklich gemacht. Doch jetzt wartete ich zunächst einmal auf Alli, mit der ich dann nach Hause fuhr. Ja, ich wartete… schon wieder. Lange dauerte es nicht, da wir sowieso länger gemacht hatten, aufgrund meines Zuspätkommens. „Ist alles ok? Du siehst vollkommen fertig aus. Hast du geweint?“ Ich drehte meinen Kopf zur Seite. „Nein, wieso denn? Es war nur anstrengend.“ Ich war seit dem Unfall sehr einsilbig geworden und sprach nur das Nötigste aus. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Alli noch von meinem ‚Date‘ erzählen musste. „Alli, ich treffe mich heute Abend mit dem Tänzer.“ Sie blieb abrupt stehen und sah mich an. „Wo hast du den denn getroffen?“ „Hier im Krankenhaus. Seine Partnerin hatte sich den Knöchel verstaucht.“ Alli strahlte, genau wie ich es mir schon vorher gedacht hatte. „Na dann viel Spaß!“ Ich verdrehte aufgrund ihres Grinsens die Augen. Aber das war auch egal.

Als wir…, also… Alli vorm Haus ausstieg und sie mir aus dem Auto half, verlor ich plötzlich die Lust an dem Treffen mit Paolo. Ich wollte keinem zur Last fallen, das musste Alli schon ertragen. „Ich glaub ich werd ihm absagen.“ Sie hielt inne. „Du wirst was? Nein, niemals, kommt gar nicht in Frage!“ Da fiel mir auch schon ein, dass ich weder Telefonnummer noch Adresse von ihm kannte, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten, wie sich alles entwickeln würde.

Der Nachmittag schlich vorüber und irgendwann klingelte es an der Tür. Alli wollte unbedingt, dass ich mein meergrünes Kleid anzog, doch ich fand ein Kleid nicht mehr schön an mir. Daher hatte ich eine einfache, dunkle Jeans und eine Bluse angezogen. Ich öffnete die Tür und bekam als allererstes einen Blumenstrauß auf den Schoß gelegt. Rosen. Ich hatte eine Schwäche für Rosen, vor allem für gelbe. Lächelnd bedankte ich mich und bedeutete ihm, hereinzukommen, während ich noch nach meiner Jacke suchte, die ich schließlich im Schrank von Alli fand. Ich hatte keine Ahnung, wer zuletzt aufgeräumt hatte. Als ich angezogen war, gingen wir. Und zwar in das gleiche Restaurant, in dem ich mit Alli gewesen war, als wir ihn zum ersten Mal getroffen hatten. Wir plauderten über alles Mögliche und boten uns schließlich das Du an. Warum auch nicht? Ich mochte ihn sehr und hegte den geheimen Wunsch, auch ihm einen Kuss zu geben, wie er es am Vormittag getan hatte. Ich erfuhr, dass er schon auf vielen Turnieren getanzt hatte und das Tanzen seine allergrößte Leidenschaft war. Irgendwann begann ich zu erzählen, dass auch ich das Tanzen geliebt hatte, woraufhin er natürlich drucksend wissen wollte, seit wann ich nicht mehr laufen konnte. Ich erzählte ihm grob, was passiert war und er hörte mir interessiert zu. Ich war froh darüber, dass er nicht sagte, wie leid es ihm tat, usw… Was eben alle immer so von sich geben. Ich wollte kein Mitleid, es war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. „Du bist eine erstaunliche Frau, Remy. Meine Frau ist auch immer so tapfer.“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Deine… Was?“ „Meine Frau. Angelina und ich sind verheiratet. Habe ich dir das nicht erzählt?“ Er war mit seiner Tanzpartnerin verheiratet?! Meine Welt zerbröckelte von einer Sekunde zur anderen in tausende von Splittern. „Nein, dieses winzige Detail hast du mir verschwiegen.“ Ich wollte nur noch Heim. „Paolo, mir geht’s heute nicht so gut, ich hatte einen sehr anstrengenden Tag und es ist ja auch schon spät. Bitte, bring mich nach Hause.“ Erstaunlicherweise kam er meiner Bitte sofort nach und setzte mich vor unserer Haustüre ab, wo er mir noch half und die Tür aufschloss. „Danke für den schönen Abend.“ Ich war am Boden zerstört, wollte aber nicht unhöflich sein. „Wann sehen wir uns wieder?“ Er wollte mich tatsächlich wieder treffen! Hatte er überhaupt keinen Respekt vor einer Ehe? „Ich denke nicht, dass wir das hier wiederholen werden. Es war sehr schön, aber du bist verheiratet und ihr geht bald nach Italien zurück. Arrivederci.“ Ich ließ ihn in der Tür stehen und ging in die Wohnung, wo ich erst einmal anfing zu weinen und Alli meine Pleite erzählte. „Immer suchst du dir die Falschen aus…“ Sie streichelte mir übers Haar, bis ich eingeschlafen war und ging schließlich in ihr eigenes Bett.

Am nächsten Morgen war ich wie geplättet. Meine Augen waren vollkommen verquollen, und ich hatte mal wieder Rückenschmerzen. Nach dem Frühstück wurde es etwas besser, vor allem nachdem ich mit Alli über den Vorabend gesprochen hatte. Irgendjemandem musste ich es schließlich anvertrauen. Sie meinte, wenn er so rangeht, dann wäre er auch kein Gentleman und hätte mich erst recht nicht verdient. Es klang plausibel, allerdings hatte ich ihm mein Herz ausgeschüttet, da ich mich vom ersten Moment an in ihn verliebt hatte. Das Beste wäre, wenn ich einfach Single bliebe.

Ich hatte ihn auch schneller vergessen, als ich es je für möglich gehalten hätte und mein Leben ging wieder den gleichen, langweiligen Trott. Alli ging arbeiten, ich langweilte mich, und fuhr jeden zweiten Tag mit ins Krankenhaus, um mich quälen zu lassen. Alex gehörte glücklicherweise zu der Sorte Mensch, die zuhören konnte, und Verständnis für meine Probleme hatte. Ich mochte ihn sehr und er war mir von Anfang an ein guter Freund gewesen. Immer wieder hatte er mir zur Reha geraten, mich aber nie unter Druck gesetzt oder mich gar dazu gezwungen. Ich solle mir Zeit lassen, hatte er gesagt. Und ich ließ mir Zeit. Ich hatte alle Zeit der Welt, keine Arbeit oder sonstige Verpflichtungen.

Es war Donnerstag und ich ging wieder einmal mit Alli ins Krankenhaus. Bis zu meiner Therapie dauerte es noch ein paar Stunden, sodass ich mich in die NA setzte und dem Treiben zusah. Es herrschte Hochbetrieb und ich fragte mich, was die Leute alle für Sachen anstellten! Abgeschnittene Finger, aufgeschlagene Köpfe, gebrochene Gliedmaßen… Und alle mussten warten, weil viel zu wenige Ärzte anwesend waren. In der Ecke saß ein kleiner Junge mit großen braunen Augen und blonden Haaren und drückte ein zerfleddertes Taschentuch auf sein Knie. Ich ging zu ihm und sprach ihn an. „Wo sind denn deine Eltern?“ Er schaute mir mit seinen großen Kulleraugen ins Gesicht. „Die müssen arbeiten. Unsere Nachbarin hat mich hergebracht.“ Der Kleine mochte kaum älter als sieben sein. Ich blieb bei ihm sitzen und forderte ihn auf, seine Hand vom Knie zu nehmen. Seine Hose hatte ein riesiges Loch und darunter war die komplette Haut aufgerissen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so stark bluten würde und zog schnell ein frisches Taschentuch aus meiner Jackentasche. „Kannst du laufen?“ Er nickte. „Dann komm mal mit.“ Ich brachte ihn in einen freien Behandlungsraum und versorgte die Wunde. Warum auch nicht? Meine Approbation hatte ich ja nach wie vor, und hier wurde im Moment jeder Arzt dringend gebraucht. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr mir meine Arbeit eigentlich wirklich fehlte. „Alles klar?“ Er nickte wieder. „Wie heißt du denn?“ „Jacob.“ Ich lächelte ihn an. Ich konnte gut mit Kindern und mochte es, mich mit ihnen zu unterhalten. „Wieso kannst du nicht laufen?“ Insgeheim hatte ich die Frage schon erwartet. Kinder interessiert so etwas. „Ich hatte mit meiner Freundin einen Unfall und hab mir ganz sehr wehgetan.“ Was sollte ich ihm sagen? Er gab sich damit zufrieden. Ich machte mich mit ihm wieder auf den Weg nach draußen, wo er mich umarmte und sich bei mir bedankte. Ich musste lachen und sagte ihm, er solle in Zukunft vorsichtiger sein, wenn er Fahrrad fährt. Den Rest der Zeit langweilte ich mich.

Zumindest war ich diesmal pünktlich bei Alex. Er hatte sogar noch eine andere Patientin in Behandlung, als ich kam, sodass ich noch draußen auf dem Gang wartete. Als sie herauskam grüßte ich freundlich und schaute ihr noch kurz nach. Sie hat Parkinson, schoss es mir durch den Kopf. Ich sah es an der Art, wie sie lief und an der Unruhe in ihren Muskeln. Mir wurde schwummrig, wenn ich an meine Zukunft dachte, also schloss ich die Augen und wischte die störenden Bilder und Gedanken fort. Doch sie wollten sich nicht einfach so aussperren lassen. „Hallo Remy, wieso kommst du nicht rein?“ Alex steckte den Kopf zur Türe heraus. „Ich komme... Ich komme.“ Ich murmelte nur so vor mich hin und kam herein. „Irgendwelche Sorgen, Wünsche, sonstige Probleme?“ So begrüßte er mich jedes Mal. Ich schüttelte den Kopf. „Gut, bringen wirs hinter uns. Komm runter auf den Boden, wir fangen gleich hier an.“ Ich beugte mich nach vorn und schob mit den Händen meine Füße von den Fußstützen. Dann stützte ich mich auf den Lehnen ab und schob mich nach oben, setzte mich aber gleich wieder hin. „Alles ok?“ Alex klang besorgt und kam zu mir. „Ja, es ist nur… Mir geht’s heute nicht so gut… Ich schaff es nicht alleine.“ Mir kamen schon wieder die Tränen. Immer, wenn ich bei ihm war, bemerkte ich erst einmal, wie unfähig ich war. „Das ist doch nicht so schlimm. Einen schlechten Tag gibt es ab und zu nunmal, das ist doch nichts Neues. Los, ich helf dir.“ Er beugte sich über mich, griff mir gekonnt unter die Arme und zog mich nach oben. Es war ein seltsames Gefühl, da es den Anschein hatte, als ob ich schweben würde. Ich hielt mich an seinen Armen fest, und er umfasste meine Taille. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihm so nahe zu sein. Noch immer liefen mir Tränen übers Gesicht. „Ist ja gut.“ Er drückte mich an sich und ich lehnte meinen Kopf gegen seine Brust. So standen wir da, unendliche Minuten lang, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Es bedurfte keinerlei Worte, um die Traurigkeit zu vertreiben, die sich in mich hineingefressen hatte und es war vollkommen ungewohnt für mich, ihn nicht nur als meinen Freund anzusehen. Völlig unerwartet setzte er mich auf dem Boden ab und kniete sich neben mich, um mir gleich darauf einen zärtlichen Kuss zu geben. Verwirrt lehnte ich mich zur Seite und schaute ihm verständnislos in die Augen. „Entschuldige. Reflex.“ Ich schüttelte lächelnd den Kopf und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Entschuldige. Notwehr.“ Wir musterten uns kurz gegenseitig und prusteten dann los. So herzlich gelacht, hatte ich schon lange nicht mehr. Und es war ein schöneres, ein vertrauteres Gefühl als mit Paolo. „Du hast die Parkinson-Patientin vorhin gesehen, nicht wahr?“ Wir verstummten und ich nickte ihm zu. „Es ist noch nicht so weit, hab keine Angst.“ Erneut fiel ich ihm schluchzend in die Arme. „Du verstehst das nicht! Du weißt nicht wie es ist zu wissen, dass man nur noch ein paar Jahre zu leben hat und langsam aber sicher jämmerlich zu Grunde gehen wird!“ Ich schämte mich für meine Worte, da er mir gegenüber immer so lieb und verständnisvoll war. „Nein, das weiß ich wirklich nicht. Aber wir stehen das gemeinsam durch, einverstanden?“ Die Aussicht, mich an jemanden klammern zu können, war verlockend, doch meine Zweifel ließen sich nicht ausblenden und ich hatte keine Kraft mehr dazu, mit irgendwem eine feste Bindung einzugehen. „Ich würde dich nur belasten, was ich übrigens jetzt schon tue. Und das könnte ich nicht aushalten.“ „Es macht mir nichts aus. Remy, ich liebe dich!“ Das Blut schoss mir in die Wangen und pulsierte in meinen Ohren. „Lass es uns versuchen. Bitte.“ Ich musste nicken. Mein Verstand schrie und wütete in meinem Kopf herum, doch mein Gefühl siegte darüber. „Ja, versuchen… Hast du heute noch Patienten?“ „Nein, wieso?“ Er hatte es gar nicht mitbekommen. „Weil die dreiviertel Stunde schon längst um ist, und wir noch nicht einmal annähernd angefangen haben.“ Er grinste mich an und streckte mir die Hand entgegen. „Na dann mal los, schöne Frau!“ Ich ergriff seinen ausgestreckten Arm und rutschte Stück für Stück über den Boden, bis ich in einer halbwegs bequemen Haltung saß. Ich konnte mich nur mit Mühe auf die Übungen konzentrieren, denn ich musste vielmehr immer wieder an den Kuss denken. Trotzdem ging an diesem Tag alles besser als sonst, trotz der schwachen Einlage gleich zu Anfang. „War’s das?“ „Eigentlich schon… hast du noch kurz Zeit?“ Natürlich hatte ich Zeit, was ich ihm durch ein Schulterzucken in Kombination mit einem Nicken deutlich machte. „Dann konzentrier dich jetzt und probier heute nochmal aus, ob du meine Hand fühlst.“ Ich hatte ein wenig Angst. Angst davor, dass es wieder nicht funktionieren könnte. Ich schloss die Augen und wartete. „Du konzentrierst dich zu sehr. Ganz entspannt.“ Mein Puls schlug heftig. „Was war das denn?“ Ich wunderte mich, was Alex meinte. „Was denn?“ „Du… Hast mit dem Fuß gezuckt.“ Ich zog meine Stirn in Falten, wie ich es immer tat, wenn ich verwirrt war, oder die Meinung von jemandem anzweifelte. Aber er schien es ernst zu meinen, denn er umarmte mich erneut. „Aber dann… muss noch ein Muskeltonus vorhanden sein…“ Mit einem vielsagenden Lächeln schaute er mir in die Augen. Nach einer Weile meinte er, dass es genug für heute wäre und ich mich ausruhen solle. Er beugte sich hinunter und hob mich auf seine Arme, um mich dann sanft in meinen Rollstuhl zu setzen. Ja, in meinen Rollstuhl. Ich hatte ihn inzwischen als solchen akzeptiert. „Ich bring dich nach Hause, einverstanden?“ „Ja, gerne.“

Er hatte einen Geländewagen und insgeheim fragte ich mich, wozu er einen solchen mitten in der Großstadt brauchte. Er war zwar geräumig, aber ich konnte wegen der Höhe trotzdem nicht allein einsteigen, sondern musste warten, bis er mir zu Hilfe geeilt kam, was nicht sehr lange dauerte. „Was ist aus deinem Tänzer geworden?“ Ich fuhr erschrocken mit dem Kopf herum. Woher wusste er von ihm? Als ob er meine Gedanken lesen könnte, gab er mir eine Antwort auf die unausgesprochene Frage. „Allison.“ Ich musste grinsen. Alli konnte nie etwas für sich behalten. „Er ist verheiratet.“ Alex ging nicht weiter darauf ein. Als er mich vor der Wohnung ‚ausgeladen‘ hatte, verabschiedete er sich mit einem flüchtigen Kuss. „Bis morgen also!“ „Wieso morgen? Übermorgen.“ „Nein, morgen. Dein Therapietermin wurde schon letzte Woche auf morgen verlegt, falls du es vergessen hast. Weil morgen doch der Spezialist für Neurologie kommt.“ Ach ja. Ich erinnerte mich dunkel. „Ok, bye.“ Nachdem Alex mir noch die Tür aufgeschlossen, und mir beim Überqueren der Türschwelle geholfen hatte, ging er. Ich fühlte mich plötzlich so leer, jetzt, da ich vollkommen allein im Flur saß. Seine Nähe hatte mir gut getan, und der Kuss hatte ihn mir von einer ganz neuen Seite gezeigt. Ich hatte ihn nie aus diesem Blickwinkel betrachtet. Er war einfach immer mein Freund gewesen und fertig. Jetzt war er es nicht mehr, jetzt bedeutete er mehr für mich. Alles.

Den Rest des Tages langweilte ich mich nur. Alli kam erst spät nachts und ich war schon längst ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen ging es mir furchtbar. Es schmerzte jeder Knochen und ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, sodass ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Aber ich musste schon um neun im Krankenhaus sein, sodass ich mich mit dem Waschen und Anziehen mehr beeilte als sonst. Und tatsächlich… Ich brach meinen alten Rekord von 29 Minuten mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit von 23 Minuten – Nicht schlecht. Nachdem ich mir zum Frühstück eine halbe Nutellasemmel hineingezwungen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Straßenbahn. Und als ob ich nicht schon genug gestraft wäre, fuhr auch noch der unfreundlichste Fahrer der ganzen Stadt. Ich möge mich doch bitteschön ein bisschen mehr beeilen… Glücklicherweise waren ein paar freundliche Leute anwesend, die mir beim Überqueren der fiesen Kante halfen. Dadurch, dass die Bahn direkt vorm Krankenhaus hielt, brauchte ich nicht noch eine längere Strecke zurücklegen, wofür ich sehr dankbar war. Unten in der Eingangshalle fing mich sogleich Alex ab. „Kenne ich Sie nicht?“ Ich spielte sein Spiel mit und entgegnete ihm in einem schnippischen Tonfall „Ich spreche nie mit Fremden. Aber dürfte ich Ihnen einen Kuss geben?“ Schmunzelnd beugte er sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr, nachdem er mir einen Kuss gegeben hatte „Du hast wunderschöne Augen –Sie sind wie die grün-blauen Wellen des Ozeans, wenn sich das Licht in einer ganz bestimmten Weise in ihnen bricht, wie Smaragde im Sonnenlicht und sie spiegeln die Neugierde einer Katze wider.“ Ich blickte ihm eindringlich in die Augen „Und du spinnst.“ Er zuckte mit den Schultern und schob mich zum Fahrstuhl. „Holst du deine Patienten seit Neuestem persönlich ab?“ „Nein, nur die Hübschen.“ Ich verdrehte die Augen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich jemand als wunderschön oder hübsch bezeichnete, oder mir andere Komplimente machte. Ich war eine Frau wie jede andere… Eher im Gegenteil: Ich saß im Rollstuhl… Sehr sexy. „Muss ich mir wirklich die Vorlesung anhören?“ Ich war nicht in der Stimmung, mich von jemandem über meine Probleme unterrichten zu lassen. „Ja, musst du. Es ist für dich vorteilhaft, sogar in zweierlei Hinsicht.“ „Ich weiß.“ Meine Antwort war nur ein Flüstern, doch ich wusste, dass Alex mich verstanden hatte. Abrupt blieb er stehen und schaute mich von der Seite her an, was mir sehr unangenehm war. „Ich werde auch dabei sein.“ Ich nickte. Zumindest war dies schonmal eine gute Nachricht.

Die Vorlesung begann halb elf, sodass wir uns beeilen mussten, um überhaupt noch einen Platz zu bekommen. Es waren noch einige Minuten Zeit, daher schaute ich mich in dem großen Raum um und hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Auf der anderen Seite des Ganges saß das House-Team. Meine Mitarbeiter. Ich vermisste sie. Aber vor allem, und das hätte ich nie für möglich gehalten, fehlte mir House. Wir litten oft unter seiner Fuchtel, aber er war einfach genial. Ich überlegte, ob ich hingehen sollte, da ich seit fast einem Jahr nicht mehr mit ihnen gesprochen hatte. Alli sagte, dass sie kurz nach dem Unfall mal im Krankenhaus waren, allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt mein Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Taub hatte geweint… Ich konnte es mir nicht vorstellen, wenn ich ihn jetzt hier so sitzen sah. Hatte es wirklich den Anschein gehabt, dass ich es nicht überleben würde? Ich fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, sprach meine Gedanken aber nie gegenüber Alli aus. Sie würde es nicht verstehen. Ich entschloss mich dazu, wenigstens Hallo zu sagen. Kutner war der Erste, der mich erblickte. „Dreizehn!“ Mehr brachte er nicht hervor, doch es genügte, um die Aufmerksamkeit der anderen auf mich zu lenken. Ich wusste plötzlich nicht mehr so recht, was ich sagen sollte. „Hi. Ich dachte mir, wenn ich euch schonmal hier sitzen sehe, könnte ich auch gleich mal Hallo sagen.“ Es klang bescheuert, aber besser als nur dumm dreinschauen. Foreman sprang von seinem Sitzplatz auf und umarmte mich herzlich. „Gut sehen Sie aus. Wie geht’s Ihnen?“ Ich zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. „Ganz ok. Es könnte besser sein.“ „Du fehlst uns.“ Taub musste auch seinen Senf dazugeben. „Kommst du wieder ins Team?“ Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich geh dann mal wieder rüber. War schön, euch wieder mal zu sehen. Alles Gute.“ Ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken, als ich mich wieder davonmachte und malte mir allerlei Gespräche aus, die sie jetzt führen mochten. Aber ich kam zu keinem Ergebnis, denn die Vorlesung begann. Der Professor, ein großer, elegant gekleideter Mann, betrat das kleine Podest, auf dem ein Mikrofon stand. Seine Rede begann er kurz und schmerzlos. „Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen danken, dass sie so zahlreich hier erschienen sind. Vor allem aber möchte ich Dr. Cuddy danken, die es mir möglich gemacht hat, meine medizinischen Forschungen hier darzulegen. Die Neurologie umfasst natürlich einen sehr großen Bereich, den man wohl nie vollkommen ergründen kann. Meine neuesten Forschungsergebnisse zeigen, dass…“ Ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Mir war von vornherein klar gewesen, dass es nichts Interessantes, bzw. für mich Hilfreiches oder Neues zu erfahren gab.

Der Vortrag dauerte eine halbe Stunde. Danach ging ich ins Obergeschoss zu meiner Therapie. Alex und ich hatten uns in dem Gewühl aus den Augen verloren, sodass wir einfach einzeln nach oben gingen. „Du bist ja schon hier!“ Überrascht drehte ich mich um. „Wieso schniefst du so? War’s dir zu anstrengend im Fahrstuhl einen Knopf zu drücken?“ Meine Scherze waren einfach manchmal zu dämlich. „Wieso? Der Fahrstuhl ist defekt.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Bei mir hat er noch funktioniert.“ „Freu dich. Dann mal los. Irgendwelche Sorgen, Wünsche, sonstige Probleme?“ Ich musste lachen, da ich den Satz nun schon mitsprechen konnte. „Ich hab Kopf- und Rückenschmerzen. Nichts Neues also.“ Er nickte gedankenverloren mit dem Kopf. „Ich massier dir nachher den Rücken.“ „Wow, was für ein Service!“ „Mhh… all inclusive! Aber erstmal wird was für deine Beweglichkeit getan!“ Ich schmunzelte ihm zu und ließ mich auf den Boden gleiten. Es fiel mir immer wieder auf, wie schwer es mir fiel, einfach nur frei zu sitzen, ohne mich abzustützen. Ich freute mich trotzdem über meine wiedererlangte Balance. Bis vor einigen Monaten konnte ich mich so überhaupt nicht aufrecht halten. Es war schon erstaunlich, welch geringe Fortschritte genügten, um wieder Kraft zu bekommen, sodass man nicht aufgab. Zugleich war es aber auch erschreckend. „Leg dich auf den Rücken und versuch das Bein anzuziehen.“ Ich wunderte mich, was das sollte. „Wie soll ich denn mein Bein anziehen? Das schaff ich doch nie!“ „Nur versuchen. Ich weiß, dass es nicht geht, aber du musst überhaupt erstmal eine Verbindung zwischen deinem Gehirn und deinen Muskeln über die Nervenbahnen herstellen. Hast du schonmal versucht ohne Stecker Radio zu hören?“ Ich musste über den Vergleich lachen und tat, was Alex wollte. „Na also, es geht doch.“ „Was heißt hier es geht doch? Willst du mich auf den Arm nehmen?“ „Soll ich dich mal beim Wort nehmen? Nichts lieber würde ich jetzt tun, als dich in meinen Armen zu halten. Ich meinte eigentlich, dass du wieder mit dem Fuß gezuckt hast. Wir kriegen das noch hin, das verspreche ich dir.“ Ich stützte mich mit den Ellenbogen vom Boden ab und sah ihm in die Augen. Er meinte es ernst. Seine Augen sprachen immer die Wahrheit. Er fasste meine Arme und zog mich vollends in die Senkrechte. „So, jetzt lehn dich vor und entspann dich.“ Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Seine Hände wanderten erst vorsichtig, dann mit verstärktem Druck über meinen Rücken und hinterließen ein wohliges Gefühl. Mehrmals stöhnte ich auf. Wie kann man nur so versteift sein? „Du bist total verkrampft. Lass doch mal deine Muskeln locker!“ Es klang schon beinahe wie ein Vorwurf… Aber eben nur beinahe. Als Alex fertig war, ging es mir um viele Längen besser. Er hatte, da er einmal dabei gewesen war, auch gleich noch meine Beinmuskulatur mit gelockert. „Danke.“ Hauchte ich ihm ins Ohr, als ich in seinen Armen lag. Er strich mir sanft über den Kopf und spielte mit meinen Haarsträhnen herum, die mir über den Rücken hingen. Immer wieder rückte er meinen Körper zurecht, damit ich bequem lag. „Lass das doch mal, es ist doch schon gut so.“ „Nein, ist es nicht. Ich weiß, dass du es nicht bemerkst, aber deine Beine sind total verdreht. Das ist nicht gut. Wenn du zu Hause auch immer so auf dem Sofa liegst, kann ich dir sagen, woher die Rückenschmerzen kommen.“ Ich fand, dass er übertrieben besorgt war, sprach es aber nicht direkt aus. „Sag mal, bin ich eigentlich neuerdings deine einzige Patientin?“ Er musste schmunzeln. „Mittagspause. Und das noch 25 Minuten – genug Zeit zum Relaxen mit dir.“ Meine Augen mussten leuchten wie zwei Sterne. Ich war so glücklich, wie schon seit Jahren nicht mehr. Alex hatte mir meine Lebensfreude zurückgegeben, wofür ich ihm unendlich dankbar war. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd und umschloss seinen Körper mit meinen Armen. So saßen wir auf der Bodenmatte, bis seine Pause vorbei war und ich gehen musste. Er hob mich hoch und gab mir einen liebevollen Kuss. „Komm, du musst arbeiten. Außerdem bin ich viel zu schwer zum ewigen Herumtragen.“ „Ich würde dich bis ans Ende der Welt tragen, da kannst du dir sicher sein.“ Mit einem seligen Lächeln verließ ich den Raum und fand mich auf dem Gang wieder, wo ich erst einmal zum Fenster ging und über den Stadtpark schaute. Ich hatte das Bedürfnis, spazieren zu gehen. Blöde Idee, aber ich konnte mich nicht mit dem Gedanken zufrieden geben, einfach nur in irgendeinem Zimmer herumzusitzen. Immer wenn ich mich mit Alex getroffen hatte, hatte ich danach das Gefühl, als ob ich die Welt einreißen könnte. Es war ein wunderschönes Gefühl, und ich wollte es um keinen Preis missen.

Meine Nachmittage verbrachte ich mit Warten. Ich hatte es noch nie erlebt, dass ich mich auf den nächsten Krankenhausaufenthalt so sehr freute wie jetzt. Aus heiterem Himmel war es so und Schuld daran trug einzig und allein Alex. Ich schwebte im siebten Himmel. Alli sagte mir oft, dass sie mich gar nicht wiedererkannte. „Du hast dich verändert. Zum Positiven.“ Ich musste sie jedes Mal angrinsen. „Sag ihm mal einen schönen Gruß von mir: Er soll dich gefälligst auf keinen Fall verlassen!“ Mit diesem Gedanken spielte ich gar nicht erst, da er mich zu sehr belasten würde. Es gab im Moment nichts, was unsere Liebe hätte erschüttern können. Und das sollte so bleiben. Es reichte über meine Vorstellungskraft hinaus, dass ich plötzlich allein wäre… Glücklicherweise – wie sollte ein Mensch es verkraften, wenn er sich immer nur die schlechten Seiten vor Augen führte. Irgendwann musste er ja daran zerbrechen. Zumindest hätte ich dann endlich einen Grund, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Vor den Zug springen war dabei ja nun keine Option mehr. Aber solange alles in Ordnung war, bzw. das, was für mich in diesem Moment ‚in Ordnung‘ bedeutete, brauchte sich niemand Gedanken über ein plötzliches Ableben meinerseits zu machen. Himmel… Ich hätte nie im Traum daran gedacht, überhaupt jemals mit einem solchen Gedanken zu spielen. Und darum jetzt auch genug davon. Ich versuche es aus meinem Kopf zu verbannen und im Moment habe ich auch keinerlei Gründe, mich zu beschweren.

Als ich das Krankenhaus verlassen wollte, stellte ich fest, dass Alex recht gehabt hatte. Die Fahrstühle waren defekt. Und was nun? Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Nach unendlichen 20 Minuten setzten sie sich wieder in Bewegung und ich konnte endlich nach Hause.

Es klingelte an der Türe. Alli war nicht da, also machte ich mich auf den Weg. Draußen stand Alex. „Was treibst du denn hier?“ Schelmisch blitzten seine blauen Augen mich an. „Ich dachte wir könnten mal zusammen ausgehen?!“ „Nein, können wir nicht. Ich kann nicht gehen.“ Er konnte meine Wortklauberei nicht ausstehen, verdeckte seinen Groll aber immer mit einer Erwiderung oder einem Lächeln. „Ich trag dich! Bis ans Ende der Welt, bis zu den Sternen, wohin du willst!“ „Ich weiß. Ich zieh mich um und hol meine Jacke.“ Ich hatte ihn tatsächlich im Flur stehen lassen. Wie trampelig konnte man überhaupt sein? Nur provisorisch steckte ich mir die Haare hoch und suchte mir eine hübsche Bluse aus dem Schrank heraus. Mhh… gelb-orange-karierte Bluse und dunkelblaue Jeans. Warum nicht, es sah nicht ganz schlecht aus. Lächelnd kam ich in den Flur zurück. „Wollen wir dann?“ „Nichts lieber als das.“ Mittlerweile schaffte ich es beinahe allein in seinen Wagen. Aber eben nur beinahe. Die letzten paar Zentimeter half er mir nach oben. Problematisch war eher das Wiederaussteigen. Seit ich versucht hatte, mich seitlich aus dem Auto rutschen zu lassen, mich mit der Hand nicht am Türrahmen festhalten konnte, und mich auf dem Asphalt wiederfand, bevorzugte ich es eher zu warten, dass er mir beim Herausklettern aus dem Wagen half. Das Abendessen war ein guter Anlass, ihm eine freudige Botschaft zu erzählen. Erst, als wir einander gegenüber an einem kleinen Holztischchen saßen, rückte ich damit heraus. „Alex.“ Ein brummelnder Laut war die Antwort. „Ich hab heute Morgen im Bett bewusst mit den Zehen gewackelt. Ein ganz kleines bisschen.“ Schmunzelnd schaute ich auf meinen Tellerrand. Er blickte mich wieder mit seinem Honigkuchenpferd-Grinsen an und sprang augenblicklich auf, um mir einen seiner unendlich gefühlvollen Küsse zu geben. „Siehst du Prinzessin, ich hab dir doch versprochen, dass du wieder laufen kannst.“ Ein leichtes Unbehagen stieg in mir auf. „Mein… Vater hat mich auch immer so genannt.“ Er blickte mich mit seinem ruhigen, ausgeglichenen Blick an. „Was ist mit deinem Vater?“ „Ich hab keine Ahnung. Als… Meine Mutter gestorben ist, hat er angefangen zu trinken. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Und ich habe auch nicht vor, das zu ändern, denn er war immer mein bester Freund und… Ich will ihm nicht so gegenübertreten. Und ihn vor allem nicht so sehen, oder das, was von ihm übrig ist.“ Alex strich mir behutsam über den Rücken und nahm mich in den Arm. Er sagte nichts. Keine Worte des Mitleids oder der Gleichgültigkeit. Nichts. Und genauso liebte ich es. Einfach nur den Brand in der Seele loswerden, ohne, dass das ganze Thema dann bis ins Letzte erörtert werden musste. Er war einfach für mich da und ich konnte mich an ihn lehnen, wann immer ich ihn brauchte. „Wo sind deine Eltern?“ Ich merkte, dass es die falsche Frage gewesen war. Bei dem Wort ‚Eltern‘ zuckte er kaum merklich zusammen. „Du… musst es mir nicht erzählen. Wirklich nicht.“ In einer abwehrenden Geste schüttelte er den Kopf. „Doch, ich möchte es dir erzählen.“ Nach einer langen Pause fing er an. „Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Sie hat meinem Vater gesagt, dass er auf mich Acht geben soll. Er war der liebste Vater der Welt und nie wirklich böse auf mich, auch nicht, wenn ich etwas angestellt hatte. Eine Woche nach meinem neunzehnten Geburtstag hat er mir gesagt, dass er einen inoperablen Hirntumor hat. Nur einen Monat später ist er gestorben.“ Als er geendet hatte, zog ich ihn wieder an mich heran und umarmte ihn. Es tat mir unglaublich leid, dass ich gefragt hatte. Ich wusste wie es war, wenn die Eltern direkt vor den eigenen Augen starben. Am schlimmsten ist es, auch wenn es nur anonyme Patienten sind, wenn Menschen an einer solchen Krankheit leiden, und man als Arzt zusehen muss, wie sie langsam immer schwächer werden, ohne dass man auch nur das Geringste dagegen unternehmen kann. Dass es mir bald auch so ergehen würde, zehrte am meisten an meinen Kräften. Allein der Gedanke daran war schrecklich und ich überlegte mir ernsthaft, wie es weitergehen sollte, wenn ich meine Sinne nicht mehr beisammen hatte. Aber Alli und Alex hatten recht: So weit war es noch nicht. „Lass uns über etwas Erfreuliches reden.“ Es war sehr erleichternd für mich, dass Alex dem Thema auswich. Ich wollte nicht unhöflich sein und selbst mit etwas anderem anfangen. „Was würdest du davon halten, wenn du, Allison und ich zusammen auf den Jahrmarkt gingen? Wir hätten sicherlich sehr viel Spaß.“ Jahrmarkt? Ich bin nicht mehr auf dem Jahrmarkt gewesen, seit ich neun Jahre alt war. „Jahrmarkt? Achterbahn und so?“ Grinsend nickte er mir zu. „Ich weiß nicht.“ „Komm schon, gib dir einen Ruck. Das wird bestimmt total lustig!“ Da ich nichts zu verlieren hatte, willigte ich ein. „Ok, warum nicht.“

Wir saßen noch lange zusammen und plauderten über alles Mögliche. Irgendwann wurde ich todmüde und wir sind nach Hause gefahren… Zu ihm. Ich bin noch nie vorher in seiner Wohnung gewesen. Er hatte alles sehr gemütlich eingerichtet. In jedem der 4 Zimmer waren die Farben wunderschön aufeinander abgestimmt. Die Küche erinnerte an einen Urwald, mit ihren vielen verschiedenen leuchtenden Grüntönen. Das Badezimmer war in Blau gehalten… Blau wie das Meer. Das Schlafzimmer in den wundervollsten Gelb-Rottönen, die an die untergehende Sonne erinnerten und zuletzt noch sein Arbeitszimmer, schön schlicht gehalten – Braun, Weiß, Grau. Ich fühlte mich sofort wohl. „Du hast es wunderschön hier! Hast du das alles selbst eingerichtet?“ Ich war überwältigt und meine Müdigkeit war wie weggeblasen. „Traust du mir das nicht zu?“ Er spielte mir den beleidigten kleinen Jungen vor, und als er lachend wegrennen wollte, hielt ich ihn an seiner Jacke fest und zog ihn solange nach unten, bis er sich vor Lachen krümmend auf meinen Schoß fallen ließ. „Hey!“ Auf einmal sprang er auf. „Mein Hintern hat vibriert.“ Jetzt konnte auch ich mich kaum noch halten vor Lachen. „Jetzt im Ernst. Klingelt dein Handy?“ Ich tastete mit meiner Hand an meiner Hose herunter und wirklich – mein Handy vibrierte. „Hey Alli, ist was Wichtiges?“ Immer wieder musste ich losprusten, da Alex die genialsten Grimassen schnitt. „Nein, ich bleib heute Nacht bei ihm, du brauchst nicht warten… Gute Nacht. Wir sehn uns.“ Als ich mein Handy wieder eingesteckt hatte, nahm Alex mich auf den Arm und trug mich in sein Schlafzimmer, wo bereits, als hätte er es geahnt, ein Klappbett aufgebaut war. Er setzte mich auf der Kante seines Bettes ab. „Willst du eine Zahnbürste, oder überstehen deine Zähne es eine Nacht ungeputzt?“ Nachdenklich wog ich den Kopf hin und her. „Ich denke… sie werden‘s überstehen.“ Er zog sein Hemd und seine Jeans aus und legte sich auf das Klappbett. „Du schläfst gefälligst in deinem Bett!“ Ich wollte nicht, dass er wegen mir einen solchen Aufstand veranstaltete. „Nein, du bist mein Gast und wirst nicht in diesem klapprigen alten Ding schlafen. Womöglich brichst du noch mitten in der Nacht damit zusammen! Das kann ich nicht verantworten. Alli will dich morgen heil wiederhaben, nehm ich an.“ Ich merkte sofort, dass jeglicher Widerstand zwecklos war, also zog auch ich meine Hose und mein Oberteil aus und legte mich hin. Er schaute mir bei jeder Bewegung zu. Ich mochte es nicht, wenn mir jemand zusah, wie ich mich ungelenk aus meiner Hose quälte, und schon gar nicht, wie ich meine Beine ins Bett zerrte. Trotzdem ließ ich ihn gewähren. Ich wollte ihn nicht wegstoßen. Da es im Moment sehr schwül war, ließ es sich gut in BH und Shorts schlafen und ich brauchte das T-Shirt, was er mir hingelegt hatte nicht. „Du bist so wunderschön. Viel zu schön für diese Welt.“ Schon wieder diese Komplimente. Ich wusste nie, was ich darauf erwidern sollte. „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch. Mehr als alles andere auf der Welt.“ Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.

Am nächsten Morgen, als ich die Augen öffnete, lag Alex nicht mehr in seinem Bett. Dafür duftete es herrlich nach frischen Brötchen und Kaffee. Ich richtete mich auf und lehnte mich benommen gegen die Wand hinter meinem Kopfende. Nach wenigen Minuten kam er mit einem Tablett herein, auf dem die leckersten Dinge standen. „Och, wie lieb von dir!“ Wie lange hatte ich kein Frühstück mehr am Bett gehabt! „Bevor du Angst kriegst: Der Kaffee ist koffeinfrei. Ich weiß ja, dass du keinen anderen verträgst.“ Ich hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Manchmal überraschte er mich wirklich unheimlich. Als wir gegessen hatten, setzte er sich neben mich aufs Bett und ich lehnte mich in seinen Schoß. Behutsam streichelte er über meine Beine, als ob er sie zerbrechen könnte und strich über eine der Narben direkt auf meinem Oberschenkel. „Ein Topf kochendes Wasser. Die Hose ist an meiner Haut kleben geblieben.“ Als ob er mitfühlen würde, gab er einen stöhnenden Laut von sich. „Es tat ja nicht weh.“ „Na und?“ Ich zuckte mit den Schultern. Nach einigen Minuten ergriff er das Wort. „Weißt du, was ich dich schon dir ganze Zeit über fragen wollte?“ Ich schüttelte den Kopf. Woher sollte ich es auch wissen. „Warum arbeitest du nicht mehr? Das wäre doch kein Problem.“ Ich schaute ihn verwundert an. „Weil… Ich kann sowieso nicht mehr alles machen und ich glaube ganz ehrlich nicht, dass House will, dass ich wiederkomme. Er braucht mich nicht. Er braucht niemanden. Aber seine Mitarbeiter brauchen ihn. Natürlich, mir fehlt die Arbeit wahnsinnig! Aber was soll‘s? Es ist vorbei, und das muss ich einsehen.“ Ich wunderte mich, denn er blickte mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht von ihm kannte, und den ich nicht zu deuten wusste. „Warum verbaust du dir all deine Chancen selbst? Leb dein Leben, solange du es noch kannst!“ Fast verärgert klang er nun und ich schämte mich für meine wegwerfenden Bemerkungen. Er hatte so recht, aber ich wollte und konnte es mir nicht eingestehen. Den größten Schritt hatte ich schon getan, nämlich eine Beziehung mit ihm anzufangen. Es hatte mich große Überwindung gekostet, aus den bekannten Gründen: Ich wollte einfach keine feste Bindung mehr eingehen, um mir und anderen Leid zu ersparen. Oft ärgerte ich mich darüber, dass ich es mir so einfach machte, aber ich konnte nicht anders. Vielleicht könnte ich irgendeinen Bürojob annehmen? Ein bisschen Schriftkram usw…? Aber immer wenn ich darüber nachdachte, kam ich nur zu einem Ergebnis: Ich musste als Ärztin aktiv sein, oder es ganz lassen. Die Diagnostik fehlte mir mehr als alles andere und je mehr ich mich hineinsteigerte, desto einleuchtender wurden mir Alex‘ Worte. Ich musste arbeiten gehen! „Du hast recht. Ich… werd mir irgendwas suchen, wenn ich wieder in meiner eigenen Wohnung bin und die Therapien irgendein Ergebnis bringen.“ Er musste nicht antworten, damit ich mir sicher sein konnte, dass er stolz auf mich war. Der Kuss, der auf meine Antwort folgte, sagte mehr aus, als tausend Worte. „Dann komm mal im wahrsten Sinne des Wortes schnell wieder auf die Beine!“ Ich musste über die Formulierung bis über beide Ohren grinsen. Noch bis vor ein paar Monaten wäre ich in Tränen ausgebrochen, wenn mir jemand so etwas gesagt hätte, aber jetzt nicht mehr. Jetzt konnte ich mit der Situation umgehen… Der erste Schritt war damit getan. Seine Hände glitten durch meine Haare und strichen sanft durch mein Gesicht. Solange ich seine Nähe spüren konnte, war ich glücklich. „Sag mal, musst du nicht arbeiten?“ „Verwirre ich dich so sehr, oder macht das die fremde Umgebung? Heute ist Sonntag.“ Ich sog die Luft scharf durch meine Zähne ein. „Seit ich nicht mehr arbeite, hab ich jegliches Zeitgefühl verloren, also entschuldige.“ Nach einer Weile zog er seine Beine unter meinen Schultern hervor und schwang sich aus dem Bett. „Wo gehst du hin?“ „Willst du den ganzen Tag im Bett liegen bleiben? Ich hole unsere Klamotten, und dann geht die Post ab!“ Ich zog die Stirn kraus und schaute ihm skeptisch nach. Er hatte oft schon seltsame Ideen gehabt und ich war gespannt, was er sich diesmal hatte einfallen lassen. Er kam mit meiner Hose und meiner Bluse zurück und warf mir beide lächelnd entgegen. Ich fing sie gekonnt auf und hüllte mich in die Kleidungsstücke. Im Liegen seine Hose anzuziehen, ist schwerer als es aussieht, vor allem, wenn man sich irgendwie in die Hosenbeine hineinschieben muss. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und versuchte meine Füße anzuheben. Das Ergebnis war wieder nur ein unkontrolliertes Zucken meines rechten Fußes. „Immerhin.“ Erschrocken drehte ich mich zu Alex um. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mich beobachtete und auch nicht gewollt, dass er mir bei meinen kläglich scheiternden Versuchen zusah. „Es ist schon komisch. Jetzt freuen wir uns über ein unkontrolliertes Muskelzucken und in ein paar Jahren…“ Trotz, dass ich meine Stimme senkte, da ich meine Gedanken nicht aussprechen wollte, wusste er sofort, worauf ich hinauswollte. „Darüber darfst du jetzt noch nicht nachdenken, hörst du!“ Ich wusste es, und schob meine störenden Gedanken schnell beiseite. „Also, was hast du jetzt vor?“ „Lass dich überraschen!“ Ich hasste Überraschungen. Als Kind hatte Dad mich oft überrascht, aber mittlerweile konnte ich es nicht mehr ausstehen. Ja… Dad… Was ist aus ihm geworden? Wir hatten so vieles gemein.

Lange konnte ich nicht mehr darüber grübeln, denn Alex trug mich schon in den Flur hinaus, auch wenn ich mich lachend und mit den Armen um mich schlagend wehrte. „Hey, nicht so aggressiv!“ Ich musste immer heftiger lachen und vergrub mein Gesicht in seinem Pullover, den er sich über die Schulter geworfen hatte. Hätte ich noch mit den Beinen strampeln können, wäre es ihm mit Sicherheit nicht gelungen, mich ‚zu entführen‘, aber so… „Komm schon, wir fahren zu Allison.“ „Ich weiß überhaupt nicht, ob sie zu Hause ist, oder Bereitschaft hat.“ Es schien ihn nicht zu kümmern, denn er zuckte nur mit den Schultern. „Dann finden wir’s eben raus.“

Als wir im Auto saßen, schaute ich Alex mit einem Lächeln die ganze Fahrt über von der Seite an, bis er fragte, ob irgendwas wäre. „Nein, nichts. Ich bewundere dich. Ich mag die Art, wie du dein Leben lebst. So unbekümmert. So frei. Du… Lässt dich von gar nichts beeindrucken, wartest ab, wie es kommt. Du machst keine großartigen Planungen, sondern bist spontan. Ich kann das nicht, hab es nie gekonnt.“ Schmunzelnd schaute er weiterhin konzentriert auf die Straße. Ich wusste das Lächeln, das seinen Mund umspielte, nicht zu deuten. War es Spott, oder Freude? Nun ja… was ich mit Freude meine… Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Manchmal, wenn sich mir eine neue Perspektive öffnet, eine Sichtweise in meinem Leben, ein neuer Blickwinkel, den er mir entlockt hat und der mich einen Schritt weiter brachte, dann ließ er dieses Glück, diese Hoffnung, diese Freude mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck aus sich heraus fluten. In diesem Falle war es kein Fortschritt meinerseits, zumindest nur indirekt. Ich hatte ihn verstanden. Ein wichtiger Schritt, wenn man jemanden liebte. „Und, bist du auf ein Ergebnis gekommen?“ Völlig überraschend kam seine Frage, und es war mir unerklärlich, wie er immer und immer wieder so tief in meine Seele sehen konnte. Wie konnte er ahnen, dass ich mir über die kleinste Gefühlsregung seinerseits den Kopf zermartern würde? Dass ich seine Denkweise, mein Verständnis genauestens erörtern würde? Er kannte mich so gut, dabei war er mir noch so fremd, als ob wir uns gerade erst kennengelernt hätten. Es verblüffte mich. Einfach alles. Seine Auffassungsgabe, seine Menschenkenntnis. Ja, er konnte mit Menschen umgehen, mit Jung und Alt. Er wusste genau, was er sagen musste, um einen direkt in die Seele, mitten ins Herz zu treffen. Er kannte meine wunden Punkte, und vor keinem anderen als vor ihm hatte ich schon so oft geweint und mein Herz ausgeschüttet. „Ja, bin ich.“ Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort. Als sie aber gekommen war, erschien sofort wieder das Lächeln. Und ich wusste, dass er meine Gedanken kannte, ohne dass wir auch nur andeutungsweise einen Wortwechsel gehabt hätten. Er war ein erstaunlicher Mensch, mit einer Gabe, um die ihn sicher viele beneiden würden.

Vor Allis Haus hielt er mit einer vorsichtigen Bremsung an. Seine Fahrweise beeindruckte mich. Ganz langsam ließ er immer die Kupplung kommen, kein einziges Rucksen war im Wagen zu spüren und beinahe liebkosend trat er auf Gas und Bremse, um der fließenden Fahrt keinen Abbruch zu tun. Ich blieb im Auto sitzen. Egal was das Ergebnis unseres Besuches war: Entweder Alli war nicht da, dann fuhren wir wieder fort und ich musste nicht erst aussteigen, oder sie war da, und Alex würde solange auf sie einreden, bis sie mitfahren würde. In diesem Fall brauchte ich auch nicht erst auszusteigen. In der Zeit, in der er im Hauseingang verschwunden war, beobachtete ich die Passanten. Eltern mit ihren Kindern an der Hand, alte Leute, manche mit wütendem, manche mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck. Wenn man sich Zeit nehmen und einmal stundenlang auf die Straße blicken würde, dann bräuchte die Menschheit keinen Fernseher mehr. Das Schauspiel was man dann erblicken könnte, war interessanter als jede Show oder jeder Spielfilm. Man sieht die verschiedensten Gefühlsregungen – manche undefinierbar, manche ganz deutlich. Es ist erstaunlich wie viele Facetten das Leben eines Menschen hat, welches Leid er erfahren konnte, und welches Glück. Und das Erstaunlichste war, dass kein Mensch gleich war. Für jeden bedeutete das Wort ‚Leid‘ etwas anderes. Einige kannten diesen Begriff nicht einmal. Sicher, sie glaubten ihn zu kennen, hatten ihre große Not in der Ehe, mit den Kindern, was weiß ich. Aber eigentlich ist das kein Leid, wenn der Sohn die Vase vom Schrank geworfen hat. Leid bedeutet etwas ganz anderes, was sich darin äußert, dass man am liebsten dem enormen Druck nachgeben möchte und einfach zerbrechen will. Und ich glaube niemand weiß es besser, als ein Arzt, der schon so viele Menschenleben einfach aufgeben musste, zusehen musste, wie die Patienten langsam auf den Tod zusteuern und am schlimmsten: Den Angehörigen einreden musste, dass alles gut werden würde, auch wenn man selbst schon jede Hoffnung aufgegeben hatte. Aber ich schweife ab. Es ist die Vielfalt, die man draußen auf der Straße sieht. Spielende Kinder als Beispiel: Sie erinnern mich immer daran, dass es wichtig ist, dem Leben Farbe zu geben und dabei rufe ich mir immer mein liebstes Zitat in den Sinn, was der französische Chirurg Alexis Carrel einmal geschrieben hat: ‚Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben.‘ Etwas Ähnliches wollte Lucius Annaeus Seneca mit seinem Zitat ‚ Mit dem Leben ist es wie mit einem Theaterstück; es kommt nicht darauf an, wie lang es ist, sondern wie bunt.‘ ausdrücken. Ich hätte sie mir gern zum Lebensmotto gemacht, doch ich bemerkte leider zu oft, dass ich mich nicht daran hielt. Ich hatte Angst vor dem Tod, unglaubliche Angst. Manchmal ließ er mich nicht schlafen, der Gedanke an meinen baldigen Verfall. Mit der Angst wechselten sich Wut und Trauer ab und manchmal, aus heiterem Himmel, kam die Gleichgültigkeit. Aber letztendlich konnte ich die Tatsachen sowieso nicht ändern, warum sollte ich mir also das Hirn darüber zermartern, was in ein paar Jahren sein würde. Ich lebte hier und jetzt.

Mit Alli im Schlepptau trat Alex breit grinsend aus dem Hauseingang und kam schnellen Schrittes auf seinen Wagen zu. Schon von weitem winkte ich Alli zu, die den Gruß erwiderte und auf die Beifahrerseite zugerannt kam, um mich zu umarmen. „Hey! Na, hattet ihr Spaß?“ Mit einem ironischen Grinsen auf dem Gesicht drehte sie sich um, um hinten einzusteigen; die Bemerkung brachte ihr einen Klaps auf den Rücken ein. „So, Mädels. Ab auf den Jahrmarkt.“ „Was denn, gleich heute?“ Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet, obwohl ich vorhin gerade über Alex‘ Spontanität philosophiert hatte. „Widerstand ist zwecklos!“ Natürlich. Etwas anderes hatte ich auch gar nicht erwartet. Aber die spontanen Entscheidungen machten mir mittlerweile kaum noch etwas aus. Ich sah ein, dass es sogar gut für mich war. Dadurch, dass meine Grübeleien unterbunden wurden, konnte ich auch gar nicht lange nachdenken, ob eine Sache richtig oder falsch war. Es wurde einfach gemacht und damit basta.

Der Jahrmarkt war… Nun, wie soll ich sagen… Sehr groß, bunt und laut. Wir trafen allerlei bekannte Gesichter und Alli stellte fest, dass sie sich vor mir fürchten musste, nachdem ich bewiesen hatte, dass ich treffsicher mit einem Luftgewehr umgehen konnte. Zuckerwatte durfte natürlich nicht fehlen, und wir drei stopften uns voll, bis uns übel wurde. Das größte Opfer brachte allerdings Alli: Trotz ihrer furchtbaren Höhenangst konnte ich sie dazu bewegen, mit ins Riesenrad einzusteigen. Es kam, was kommen musste, wir hielten ganz oben an. Ich genoss es, meinen Blick über die Stadt gleiten zu lassen, die frische Luft einzuatmen und das leichte Hin-und Herwiegen der Gondel zu spüren. „Alli, mach die Augen auf. Die Aussicht ist herrlich!“ Ich rief ihr meine Worte entgegen, trotz dass sie mir direkt gegenüber saß, da es unheimlich stürmisch so hoch oben in der Luft war und der Wind mir die Worte von den Lippen riss. „Ganz sicher nicht!“ Sie änderte ihre Meinung auch nicht, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ich persönlich konnte ihre Todesängste nicht verstehen, da ich nie etwas wie Höhenangst gekannt hatte. Ich war ihr aber sehr dankbar dafür, dass sie mitgefahren war. Die Freiheit, die in dieser Höhe zum Greifen nahe war, hatte mir gut getan und mir wieder neues Selbstbewusstsein gegeben, was ich dringend brauchte.

Irgendwann war leider auch dieser Tag vorbei. Im späten Nachmittag verließen wir den Jahrmarkt – lachend, satt und zufrieden. So könnten eigentlich meine Ausführungen enden, aber dann wäre es leider nicht die Realität, sondern grenzte an ein Märchen. Ein Märchen, eine Lebenslüge, wie man will. Eins steht fest: Es wäre einfach schlichtweg utopisch, dass alles gut ist. Denn das ist es nicht, und das führe ich mir, so schlecht ich mich danach auch fühle, immer wieder vor Augen. Ich brauche jedes Fünkchen Selbstvertrauen, mehr, als jeder andere. Aber ich will keine Lüge leben und mir Erfüllung vorgaukeln lassen. Deshalb: Zurück zur Realität. Und die sieht ganz anders aus. Für meine neueste Äußerung hätte Alli mir beinahe den Kopf abgerissen. Es war am Mittwochmorgen. „Du willst was machen?!“ Ich hatte schon vorher gewusst, dass sie so reagieren würde, doch irgendwann musste ich sie darauf ansprechen. „Ja, du hast dich nicht verhört. Ich will eine Patientenverfügung verfassen. Und du wirst meine Vertrauensperson darstellen.“ Ich wollte meine Stimme fest und sicher klingen lassen, doch jeder Fremde hätte gemerkt, dass sie vor Aufregung kurz vorm Umkippen war. Also stotterte ich zusammen, was ich schaffte und hoffte auf ein nicht zu großes Donnerwetter von meiner besten und einzigen Freundin. Lange schaute sie mich einfach nur an. Ich konnte vieles in ihren Augen lesen. Wut, Verzweiflung, und auch einen Funken Enttäuschung. „Du gibst dich auf. Wie kannst du überhaupt jetzt an sowas denken?“ Ich wusste, dass es so kommen würde. „Und du siehst das alles viel zu locker. Die Huntington wartet nicht darauf, dass wir mit uns im Reinen sind, oder ich bereit dazu bin, loszulassen. Irgendwann, und zwar schon bald, wird mein Leben keinen Sinn mehr machen. Und es geht schneller, als uns lieb ist – dass weißt du genau. Ich habe es schon einmal miterlebt, und zwar zum Greifen nahe. Ich könnte es nicht noch einmal ertragen und vor allem weiß ich, wie es den Menschen drum herum geht, und ich wünsche es keinem, so etwas miterleben zu müssen. Und bevor ich es nicht mehr kann, will ich Vorsorge treffen, was mit mir passieren soll.“ Im Laufe der Zeit wurde ich sicherer, trotz dass sich die Tränen mit meinen Worten mischten und sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete. Alli schlang von hinten ihre Arme um meinen Oberkörper und legte ihr Kinn auf meine Schulter. „Du hast Recht. Du hast vollkommen Recht. Aber… Du musst auch mich verstehen. Du kommst plötzlich zu mir und eröffnest mir, dass du praktisch dein Lebensende planen willst… Wenn man es so ausdrücken kann. Hast du eine Ahnung, wie es in mir wütet? Ich bin hin- und hergerissen. Zum Einen sollte ich deine Bitte akzeptieren, weil es aus realistischer Sicht das einzig Richtige ist. Aber zum Anderen bin ich deine beste Freundin, bin wie deine Schwester, und soll ganz plötzlich darüber mitentscheiden, was in ein paar Jahren sein wird, wenn du… Das kann ich nicht. Ich habe eine furchtbare Angst dich zu verlieren und du hast furchtbare Angst vor dem Tod, also…“ „Nein! Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod. Was kann daran schon so schlimm sein? Ich meine… Man ist frei, endlich erlöst.“ Alli sah mich verwundert von der Seite an. „Ich glaube dir nicht, dass du keine Angst hast. Jeder hat das.“ Ich wusste, dass sie richtig lag. Aber ich hatte tatsächlich keine Angst vor dem Tod. Ich war ehrlich zu ihr gewesen. Und war es auch weiterhin. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe furchtbare Angst vor dem, was davor kommt.“ Jetzt konnte ich die Tränenströme nicht mehr zurückhalten. Sie flossen nur so über meine Wangen und tropften wie ein Gewitterguss auf meinen Pullover und meine Hose. Alli hielt mir ein Taschentuch entgegen, obwohl sie selbst es genauso gut hätte gebrauchen können. Meine Lippen bebten und wie in einer Zeitrafferaufnahme rasten die Bilder aus meiner Kindheit durch meinen Geist und hinterließen tiefe Schnitte in meiner Seele. Es waren Narben, die nie vollständig verheilt waren, und auch nie verheilen würden. Sie waren zu schmerzhaft und zu gegenwärtig, als dass ich sie jemals würde vergessen können. Was das Erschreckendste war, war, dass sie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widerspiegelten. Eine grausame Wahrheit, die sich nicht einfach aussperren lässt, als wäre sie nicht da. Denn sie schlummert immer irgendwo im Kopf, auch wenn man gerade Freude und Erquickung empfindet. Sie ist allgegenwärtig und verschwindet nie ganz. Irgendwo in den Hintergedanken wartet sie nur darauf, den seelisch stabilen Zustand zu zerbrechen, sodass die Angst zurückkommt und alles andere vergessen lässt. Daher konnte ich mir auch nicht mehr vorstellen, allein zu leben. Früher hatte ich meine Sorgen nachts in Alkohol ertränkt und Drogen genommen, Sex mit fremden Frauen gehabt und was man sonst noch für Dummheiten anstellen konnte. Geschlafen hatte ich so gut wie gar nicht. Ich konnte nie schlafen, denn sobald man Ruhe einkehren lässt und anfängt, seine Gedanken kreisen zu lassen, kommt die Angst zurück. Aber seit dem Unfall hatte sich alles normalisiert: Keine nächtlichen Ausflüge mehr in die schlimmsten Bars und Viertel der Stadt und keine Prügeleien mehr mit fremden Männern, die mir an die Wäsche wollten. Es ist schon unglaublich, dass erst ein Ereignis, das das ganze Leben verändert, geschehen muss, um mir die Augen zu öffnen und das mich in die Normalität zurückführt. Aber die Nerven spielten nun einmal verrückt. Den Tod vor Augen, würde man sicher alles ausprobieren, um den flüsternden Stimmen im Kopf, die nie Ruhe geben, zu entgehen. Dann erinnerte ich mich wieder daran, dass wir gerade über meine geplante Patientenverfügung gesprochen hatten, was die störenden Gedanken zumindest für den Moment etwas wegdrängte. „Ich will nicht dass du bei mir bleibst, wenn du es nicht willst, wenn es dir zu viel wird.“ Allis Gesicht war verquollen, doch sie antwortete mir sofort. „Ich bin Ärztin und weiß, was auf uns zukommt. Schreib deine Patientenverfügung und gib mich als deine Vertrauensperson an, wenn du es so willst. Aber besiegel damit vorerst deine Gedanken, denn wenn wir uns jetzt die Zukunft ausmalen, dann sind wir psychisch und physisch schon am Ende, bevor es eigentlich erst richtig hart wird.“ Ich konnte ihre Bitte nachvollziehen und war dankbar, dass sie meinem Wunsch nachkam. Dass ich immer und immer wieder nach vorn schauen würde, wusste ich vom ersten Moment an, aber ich würde sie und keinen anderen damit belasten. „Weiß Alexander eigentlich schon davon?“ Nein. Ich wollte zuerst mit ihr darüber reden. „Er wird es noch erfahren. Eigentlich müsste er es nicht einmal wissen, da es ihm sowieso egal sein kann.“ Alli schien erstaunt darüber. Was erwartete sie von mir? „Du willst ihm kein Mitbestimmungsrecht zu Teil werden lassen?“ Ich hatte Zweifel. Normalerweise war dies Allis Aufgabe, doch ich wollte kein Risiko mehr eingehen. „Was, wenn er mich verlässt?“ Sie sah mich an, wie eine Mutter ihr Kind, wenn es gerade erzählt hatte, dass es in der Schule gehänselt wird. „Er wird dich nicht verlassen. Niemals. Dafür liebt er dich viel zu sehr.“ Ein Argument, was mich hätte überzeugen können, war dies nicht gerade, aber es reichte aus, um meine Bedenken ein wenig zur Seite zu schieben. „Ich würde es ihm nicht verschweigen. Lass es uns alle drei gemeinsam verfassen.“ Ich nickte, obwohl ich mit meinem Gewissen noch nicht ins Reine gekommen war. ‚Gemeinsam‘ war für uns eines der aktuell am wichtigsten Wörter. Dazu gehörten außerdem noch ‚zusammen‘, ‚abholen‘, und ‚helfen‘. Die Worte verraten schon, dass das Wort ‚allein‘ keine große Rolle mehr spielte.

Ich machte mich nach dem Mittagessen mit Alli zusammen auf den Weg ins Krankenhaus. Eigentlich hatte ich keinen Termin, aber ich konnte nicht bis morgen damit warten, Alex zu sprechen. Ich haderte mit mir selbst, als ich im Fahrstuhl darauf wartete, dass ich in der richtigen Etage ankam. Was sollte ich ihm sagen und würde er genauso reagieren wie Alli? Es türmten sich Fragen über Fragen in meinem Kopf, auf die es keine Antwort gab. Vielleicht hatte er ja gar keine Zeit… Der Gedanke nahm mir ein wenig den Mut. Unter eventuellem Zeitdruck konnte ich nicht mit ihm darüber sprechen, dazu war die Sache einfach zu ernst. Langsam bewegte ich mich auf die Tür zu, blieb davor stehen und betrachtete das glatte Holz. Hier im Princeton Plainsboro gab es nicht viele solcher Holztüren. Spontan fiel mir eigentlich nur das Büro von Wilson ein. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag und das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Minuten verstrichen und ich hatte noch immer nicht die Türklinke heruntergedrückt. Immer wieder spielte ich in Gedanken ein Gespräch ab, konnte mich aber nicht dazu durchringen, es wirklich in die Tat umzusetzen. Das Ganze klärte sich irgendwann von selbst, nämlich als die Türe von Innen geöffnet wurde. Alex begleitete gerade eine ältere Dame nach draußen. Verwundert blickte er mir in die Augen. „Remy, was tust du denn hier?“ Ich wusste nicht, was ich auf seine Frage hin antworten sollte. Die Frau begann zu schmunzeln. „Na dann werd ich mich mal auf den Weg machen und das junge Paar nicht noch länger aufhalten.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. War es tatsächlich so offensichtlich, dass Alex und ich zusammen waren? Immerhin war es früher Vormittag und ich stand vor Alex‘ Praxis, hätte also gut und gerne eine Patientin sein können. Auf jeden Fall machte die Frau einen netten Eindruck auf mich und ich lächelte sie an, als sie sich von Alex verabschiedete. Als sie verschwunden war, wand ich mich ihm zu und versuchte mit ein bisschen Witz meine Rede anzusteuern. „Muss ich mir jetzt Sorgen machen, dass sie mir meinen Freund ausspannt?“ Er grinste mich an und wir begrüßten uns mit einer herzlichen Umarmung. „Möglicherweise. Wer weiß das schon? Aber du weißt schon, dass dein Termin erst morgen ist, oder?“ Ich nickte und schob ihn von mir weg, sodass ich ihn in voller Größe vor mir stehen hatte und ihm bequem ins Gesicht schauen konnte. „Ja, das weiß ich. Ich… muss privat mit dir reden. Hast du Zeit?“ Ich hoffte insgeheim, dass er meine Frage mit Nein beantworten würde, doch seinerseits war nur ein „Sicher, für dich immer.“ Zu vernehmen. „Ist… irgendwas passiert?“ Er sah mich scharf an und ich wurde dadurch nur noch unsicherer. „Nicht direkt.“ Meine Stimme war nur ein Flüstern, herausgepresst, zwischen meinen Lippen hindurch und eigentlich nicht für fremde Ohren bestimmt. „Aber…?“ Ich überlegte noch kurz, ob ich jetzt damit anfangen sollte, entschied mich aber letztendlich dafür, da es einfach nichts brachte, es noch länger vor mir herzuschieben. Ich sammelte mich noch kurz, und fing dann an „Nicht gleich durchdrehen, ok? Was würdest du dazu sagen, wenn ich meine Patientenverfügung demnächst schreiben würde?“ Ich machte es kurz und schmerzlos und hoffte, dass er nicht so gereizt reagieren würde, wie Alli. Entgegen meiner Erwartungen, blieb er ausgesprochen ruhig, beinahe zu ruhig. Ich wäre schon froh gewesen, wenn er keinen Tobsuchtsanfall bekommen hätte, aber das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Seelenruhig zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich neben mich, um gleich darauf meine Hände zu ergreifen. „Du musst wissen, was du willst. Aber denkst du nicht, dass das alles etwas zu überstürzt ist?“ Wie oft hatte ich mir diese Frage selbst gestellt, und war nie auf einen grünen Zweig gekommen. Und jetzt war meine größte Sorge eingetreten: Alex hatte danach gefragt. „Ich… denke es ist das Beste. Überleg doch mal. In ein paar Monaten kann es schon zu spät sein! Und dann…“ Ich hielt inne, da er mir eine Hand auf den Mund drückte und den Kopf schüttelte. „Damit signalisierst du, dass du dich schon längst aufgegeben hast… Schon alleine ‚ein paar Monate‘… bist du verrückt geworden? Du hast noch Jahre vor dir!“ Seine Worte berührten mich mitten im Herz. Er schaffte es jedes Mal, kannte bei den Menschen genau den Punkt, den er treffen musste, genau die Worte, die er zu wählen hatte. Trotzdem versuchte ich die Fassung zu behalten. „Jahre, was sind schon Jahre? Nichts! Sie zerrinnen zwischen den Fingern wie Staub, schnell, lautlos und ohne etwas von dem übrig zu lassen, was einmal wichtig war. Die Erinnerungen, die Träume. Sie nehmen alles mit sich fort, einfach so. Und jetzt sagst du, dass es noch Jahre wären.“ Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, sprach Dinge aus, an die ich überhaupt nicht dachte. Alex strich mir beruhigend über den Rücken, was mich aber nicht im Geringsten beeindruckte. Im Gegenteil: Ich wurde noch wahnsinniger. Alles, was sich in den letzten Jahren angestaut hatte, und was ich immer sorgfältig hinter einer Fassade versteckt gehalten hatte, kam jetzt hoch. „Was glaubst du wie oft mein Vater mir gesagt hat, dass alles gut wird und dass es meiner Mutter bald besser gehen würde? Tausendmal! Und trotzdem haben sie sie irgendwann weggebracht und sie kam nicht mehr zurück!“ Meine Stimme überschlug sich beinahe und ich hatte eine irrsinnige Wut. Dies war meine schlechteste Eigenschaft: Ich konnte meine Gefühle einfach nicht unter Kontrolle bringen. Glücklicherweise noch keine Folge der Huntington, denn das war bei mir schon immer so gewesen. Irgendwann war es vorbei. So schnell wie ich angefangen hatte, Alex anzuschreien, war ich wieder still und starrte vor mich hin. Jeder andere hätte gesagt ‚Du kannst mich mal‘ und wäre gegangen. Er nicht, er blieb sitzen und hielt meine Hände fest, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. Und tatsächlich beruhigte mich das Wissen, dass er da war, ein wenig. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust, wie ich es so oft tat und atmete bewusst tief ein und aus. Irgendwann stocherte ich noch einmal nach, diesmal aber darauf bedacht, nicht wieder den Verstand zu verlieren. „Was soll ich denn nun machen?“ Er hatte bis jetzt lange geschwiegen, gab mir aber sogleich eine Antwort. „Das musst du selbst wissen, Remy. Das gehört zu den Dingen, bei denen ich dir die Entscheidung beim besten Willen nicht abnehmen kann. Tu das, was du für richtig hälst.“ Damit war mir ganz und gar nicht geholfen. Ich beschloss, die Sache einfach erstmal auf Eis zu legen. Es schien mir nun doch die beste Lösung darzustellen. Zumindest vorerst. „Danke.“ „Wofür?“ „Fürs Zuhören.“ „Das ist doch selbstverständlich.“ Er war immer so bescheiden. „Nein, ist es nicht.“ Er zuckte mit den Schultern, da er sich nicht noch mit mir streiten wollte. Statt einer Antwort nahm er mich in seine Arme. „Alles wird gut.“ Obwohl mein Inneres einen ausgeprägten Hass für diesen Satz hegte, blieb ich ganz still und sprach keinen Einwurf aus. Dann, irgendwann kam der nächste Patient und ich ging. Gerade eine halbe Stunde waren wir zusammen gewesen, doch es erschein mir wie eine kleine Ewigkeit.

Am Abend konnte ich noch lange nicht einschlafen. Immer wieder schaltete ich das Licht ein und las eine weitere Seite in meinem Buch, um müde zu werden, doch es half nichts. Meine Augen blieben an diesem und jenem im Zimmer haften, ich starrte auf Fotos, die an der Wand hingen, oder auf Schränkchen standen. Sie zeigten immer nur zwei Personen: Alli und mich. Außer eines. Dieses eine Foto hatte ich weit hinter einer Lavalampe versteckt, aber man konnte es trotzdem noch stehen sehen. Es war am bunten Abend entstanden, dem 8. August. Dieser fand jedes Jahr in der Tanzschule statt und ich war immer dort gewesen, mit meinem Tanzpartner. Wir waren immer nur Tanzpartner gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Das Bild stimmte mich traurig. Ich vermisste das Tanzen unheimlich und konnte mir damals keinen Tag ohne es vorstellen, konnte es möglicherweise noch immer nicht… Aber es war nicht mehr wirklich von Bedeutung, was man wollte, es zählte nur das Hier und Jetzt. Ein wenig erschreckend, wenn man es sich genau überlegte und eigentlich war ich nicht der Typ dazu, alles so zu akzeptieren, wie es war. Zu meinen Lieblingszitaten gehörte unter anderem auch Folgendes: ‚Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen.‘ Ich habe keine Ahnung, von wem es stammt, aber es ist wunderschön und es drückt so vieles aus, was in mir vorgeht. Und es spricht die Wahrheit aus, so wie es niemand zugeben würde. Was soll das Leben ohne Träume darstellen? Es wäre sinnlos und nicht lebenswert, wenn jegliche Illusionen und Wünsche einfach nicht existierten. Aber Träume sind etwas, die jeder hat, auch wenn er es anderen und manchmal vielleicht sogar sich selbst niemals eingestehen würde. Man kann sie nicht aussperren und einfach so verdrängen und vor allem können andere Menschen niemandem die Träume verbieten. Sie sind nicht reell und somit nicht nachweisbar. Doch für jeden Einzelnen sind sie zum Greifen nahe und nur man selbst weiß sie zu deuten. Und vor allem sind sie möglicherweise das Kostbarste und Wichtigste im Leben eines wirklich glücklichen Menschen…

Irgendwann musste ich über meine Grübelei doch noch eingeschlafen sein, wie es mir sooft passierte. Zumindest kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich noch gemacht haben sollte. Meine Lider waren so schwer wie Blei und ich hatte keine Lust zum Aufstehen. Trotzdem zwang ich mich dazu in das helle Licht, was zum Fenster herein flutete, zu blicken und schlug tapfer die Bettdecke zurück. Ein Griff an meine Füße verdeutlichte mir, dass ich wieder einmal meine Bettdecke überall gehabt hatte, nur nicht dort, wo sie sein sollte. Meine Füße waren wie Eisklumpen und ich konnte nur darauf hoffen, dass ich mich nicht erkältete. Schwerfällig schob ich mich aus dem Bett und blieb noch eine Weile auf der Kante sitzen, bis sich das Karussell vor meinen Augen beruhigt hatte. Alli war nicht da, sie musste arbeiten und ich bekam mit der Zeit ein schlechtes Gewissen. Ich vernachlässigte sie seit ich mit Alex zusammen war. Natürlich ließ sie sich nichts anmerken, aber ich kannte sie und wusste, dass es sie teilweise störte. Was sie brauchte, war ein Freund, eine feste Bindung, eine Person, der sie vertraute, abgesehen von mir.

Nachdem ich mir irgendetwas zum Frühstück hineingezwungen hatte, machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus. Es war mittlerweile unerträglich heiß draußen, und eine Jacke war vollkommen überflüssig. Der Schweiß lief mir in Strömen den Rücken hinunter, trotz dass ich eigentlich an die Anstrengung gewöhnt war, aber unter diesen Bedingungen wäre sogar ein Leistungssportler ins Schwitzen gekommen, einmal davon abgesehen, dass ich die Straßenbahn verpasst hatte und den ganzen Weg ‚zu Fuß‘ zurücklegen musste. Meine Kehle war wie ausgedorrt, als ich endlich in die durch die Klimaanlage gekühlte Lobby kam. Meine Hände samt Arme zitterten und waren feuerrot, als ich sie in meinen Schoß legte und ich wollte eigentlich nur eines: Etwas Wasser! Als ich im oberen Stockwerk ankam, war ich zum ersten Mal froh darüber, dass Alex noch nicht mit offenen Armen auf mich wartete, sondern noch mit jemand anderem beschäftigt war. Ich brauchte dringend eine Verschnaufpause zumal mein Puls raste und mein Kopf höchstwahrscheinlich so rot wie eine Tomate war. Am liebsten wäre ich wieder nach Hause gegangen, wäre am liebsten gleich zu Hause geblieben, aber das ging nicht. Ich hatte mir geschworen, dass ich keinen der Termine mehr verpassen würde – nicht absichtlich zumindest. Bei meiner Vergesslichkeit konnte es schnell passieren, dass meine Gedanken überall waren, nur nicht bei den wesentlichen Dingen. Ich saß am Fenster und ließ meinen Blick über die große Grasfläche gleiten, die sich gegenüber dem Krankenhaus ausbreitete. Man konnte deutlich erkennen, dass der Sommer nun endlich vollständig gekommen war. Der Rasen war grün-braun und lechzte nur so nach Regen, der schon lange hatte auf sich warten lassen. Die Bäume waren groß und stämmig gewachsen und an den Kirschbäumen hingen schon die ersten reifen Früchte. Ich ließ meinen Blick über all das Schöne schweifen und merkte, wie meine Atmung langsam wieder in die Normalität überging und ich mich entspannt zurücklehnen konnte. Für einige Momente schloss ich die Augen und wartete auf irgendetwas. Eine Regung, eine Reaktion, aber es kam nichts. Erst nach fünf Minuten öffnete sich die Türe und Alex trat heraus. Er trug ein hellblaues T-Shirt und eine dunkelblaue Jeans, bei der er die Hosenbeine ein Stück nach oben gewickelt hatte und lächelte mich freundlich an, als ich mich umdrehte. Ich strich mir noch einmal mit der Hand durchs Gesicht und wischte eine Haarsträhne beiseite, die auf meiner Stirn klebte um ihm anschließend nach drinnen zu folgen. Trotz der Klimaanlage war die Hitze, die mir entgegenschlug beinahe unerträglich. Wie ein Hammerschlag traf sie mich mitten ins Gesicht und ließ mich verharren. „Ja, ich weiß. Es ist furchtbar heiß hier drinnen. Darum dachte ich mir, wir könnten vielleicht eine Runde schwimmen gehen?“ Zweifelnd blickte ich ihn an, er nickte mir aber nur aufmunternd zu. „Ich kann nicht.“ „Doch, du kannst.“ Ohne sich eine weitere Erwiderung meinerseits anzuhören, schob er mich in den Fahrstuhl zurück und bevor ich überhaupt wusste, wie mir geschah, saß ich in seinem Wagen. „Wo fahren wir hin?“ „Na wohin denn schon? Wir holen deinen Badeanzug. Ich hab natürlich auch nichts dagegen, wenn du ohne Klamotten schwimmen gehst.“ Da war es wieder: Dieses Grinsen. Ich streckte ihm nur die Zunge entgegen und wartete, bis er sein Auto vor Allis Wohnblock geparkt hatte. „Wo sind deine Sachen? Ich geh sie holen, dann kannst du gleich unten bleiben.“ Ich wunderte mich, dass er tatsächlich glaubte, dass ich wusste, wo mein Badeanzug war. „Glaubst du, ich weiß das so spontan? Ich hab meine Schwimmsachen seit Monaten, wohl eher schon fast Jahren nicht mehr benutzt.“ Deshalb gingen wir zusammen nach oben und entgegen meiner Erwartungen, war es angenehm frisch, als ich die Wohnungstüre aufschloss und Alex als Erster in den Flur trat. „Hier bleib ich.“ Ich grinste ihn an und er versuchte seinen strengen Lehrerblick aufzusetzen, der aber nie funktionierte, wenn ich ihm direkt in die Augen sah. „Keine Chance, wir gehen schwimmen!“ „Das ist nicht fair, ich kann mich nicht wehren!“ Nach ungefähr 20 Minuten Odyssee durch Allis Wohnung, fanden wir endlich etwas, dass einem Badeanzug ähnelte, und mir war vollkommen egal, wem er gehörte. Ich meinte zwar, ihn noch nie gesehen zu haben, aber das war jetzt nicht von Bedeutung… Sollte er mir nicht gehören, würde Alli ihn schon nicht gerade jetzt brauchen.

Als wir wieder zurück im Krankenhaus waren, gingen wir sogleich in die extra für therapiezwecke vorgesehene Schwimmhalle und zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich zuvor noch nie dort gewesen war. Das Schwimmbecken war nicht allzu groß und stets nicht tiefer als 1,50m, sodass man mühelos stehen konnte. Das heißt… Wenn man es konnte. Egal in welcher Situation ich mich befand, immer trieb mich der Gedanke daran, dass ich nicht laufen konnte, in die Verzweiflung. Ich hatte schon so oft versucht, mich dagegen zu wappnen, aber irgendwie schlich sich immer wieder ein Gefühl des Schmerzes in meinen Körper, der mich einschloss und mich nicht mehr losließ. Glücklicherweise war es nicht mehr so schlimm, seit ich mit Alex zusammen war. Er gab mir den Halt, den ich brauchte und ich wusste nicht mehr, wie ich ohne ihn zurecht kommen sollte, ohne seinen seelischen Beistand und seine körperliche Nähe. „Komm schon, Prinzessin. Umziehen, nicht träumen.“ Ja, er ließ mir gar keine Zeit überhaupt erst in Grübeleien zu versinken. Genau die Therapie also, die ich brauchte.

Wenig später stand, bzw. saß ich auf der Matte… Der Spruch klingt in dieser Hinsicht nicht mehr sehr poetisch, wie ich gerade merke. Ach was, egal. Kurz: Ich hatte mich fertig umgezogen und saß am Beckenrand, die Beine im Wasser. Schon jetzt bemerkte ich, wie mir das Gefühl der Leichtigkeit gefehlt hatte. Immerzu mit bleiernen Gliedmaßen herumzusitzen, kann manchmal anstrengender sein, als ein 1000-Meter-Lauf. Ich weiß, wovon ich rede. Aber jetzt schwebten die Beine mit einer Mühelosigkeit durchs Wasser, die schon beinahe unheimlich war. „Alles bereit?“ Alex trat von hinten an mich heran und beugte sich über mich. „Ich… hoffe. Ich glaub ich kann das nicht.“ Da waren sie wieder: Die Zweifel, meine ärgsten Feinde. In den ungelegensten Augenblicken kamen sie und nagten an meinem Selbstbewusstsein. „Natürlich kannst du das. Vertrau mir.“ Er stieg ins Wasser und stellte sich vor mich hin, legte seine Hände auf meine Schultern und blickte mir in die Augen. „Alles ok? Lass dir Zeit.“ Ich spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals, der sich kaum noch hinunterwürgen ließ. Warum ich plötzlich mit den Tränen kämpfte, wusste ich selbst nicht. „Ja, alles gut.“ Alex griff mir um die Taille und ich schob mich langsam über den Beckenrand hinaus, ließ mich vorsichtig ins Wasser gleiten und umklammerte schließlich seinen Hals. „Du bist viel zu verkrampft! Lass locker und entspann dich. Komm schon, ich weiß, dass du das kannst.“ Seine Worte sollten mich aufmuntern, jedoch erreichte er nur das Gegenteil. Ich wurde immer ängstlicher und hing an ihm, wie ein kleines Kind, das nicht schwimmen konnte. Immer fester schloss ich meine Arme um seinen Körper und rollte mich zusammen, so gut es mir meine fehlende Koordination in den Beinen erlaubte. „Hey, nicht. Nicht verkrampfen, keine Angst haben! Das ist Gift!“ Ich hörte seine Worte, doch sie prallten an mir ab wie an einer undurchdringlichen Glasscheibe. Erst als er einfach untergetaucht war, um mich wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen, ließ ich ihn los und schob mich mit zwei kräftigen Armzügen an die Wasseroberfläche zurück. „Ich hab dir doch gesagt, dass du es kannst.“ Grinsend tauchte er hinter mir auf und hielt mich fest, damit ich nicht unentwegt mit den Armen paddeln musste, um meinen Kopf über Wasser halten zu können. „Das machst du nie wieder!“ Es war das erste Mal, dass ich Alex aus Wut anschrie und es tat mir noch im gleichen Moment leid. Er hatte es nur gut gemeint und auch wirklich Gutes damit erreicht. Es war nicht meine Absicht, ihn zu verletzen. „Entschuldige.“ Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich richtig schlecht. Ich schob seine Hände von mir weg und tauchte mit dem Kopf unter, um allem um mich herum zu entgehen. Der Umwelt, Alex‘ Blick, einfach allem. Ich war nicht lange untergetaucht, da griff er nach mir und zog mich wieder nach oben, um mir einen Kuss auf den Mund zu drücken. „So einfach ertrinkst du ganz sicher nicht, wenn ich daneben stehe.“ Seine Worte klangen wie ein Tadel, aber ich musste darüber lachen. Er war mir noch nie böse gewesen, oder gar nachtragend. Noch nicht ein Mal. „Leg dich auf den Rücken und lass dich einfach treiben, ok?“ Ich ließ mich zurückfallen und spürte schon nach kurzer Zeit seine Hände unter meinem Rücken. Immer wieder gab er mir Anweisungen, wie ich ein Hohlkreuz machen sollte, und wie ich die Beine nach oben bekam, bis ich schließlich einfach auf der Wasseroberfläche lag und den schimmernden Lichtbrechungen zusah, die sich an der Decke widerspiegelten.

Wir wiederholten diese Art von Therapie noch oft, bis ich meinen eigenen Rekord brach und ganze 15 Bahnen schwamm. Ich war zum ersten Mal seit einer ungeheuer langen Zeit richtig stolz auf mich. Dass sich meine Arme danach wie Wackelpudding anfühlten, störte mich in dieser Hinsicht kein Stück. Das Schwimmen war eine Sache, bei der ich keine Hilfe brauchte, ich mich vollkommen selbstständig fortbewegen konnte und dies stärkte mein Selbstvertrauen ungemein. Und ich spürte, dass nicht nur ich stolz auf mich war. Wann immer ich Alex auch ansah, stets hatte er dieses Lächeln auf dem Gesicht, welches so voller Hoffnung war, mir solchen Halt gab und mir das Gefühl verlieh, dass ich mein Leben nicht vollkommen sinnlos vergeudete. Er hatte mir schon oft Hilfestellung gegeben und mir neuen Mut gemacht und ich war unbeschreiblich froh darüber, dass ich ihn kennengelernt hatte. Dass ich so blind war und diesem Italiener hinterhergerannt war, versuche ich nun immer geschickt zu verdrängen, da es schon beinahe peinlich ist, ihn Alex vorzuziehen. Er war immer für mich dagewesen, aber ich hatte ihn überhaupt nicht richtig wahrgenommen, ihn als guten Freund abgestempelt, obwohl mein Herz immer wusste, dass er mehr ist. Aber dieses Gefühl hatte mein Verstand geschickt verdrängt. Eins wusste ich jetzt zumindest: Das erste Gefühl war immer das Beste und Richtige.

Die Wochen verstrichen und aus dem Sommer wurde Herbst, aus dem Herbst Winter, ohne dass irgendetwas geschah. Ein eintöniges Leben, von keinen größeren Erlebnissen geprägt. Ich fühlte mich schlapp, ausgelaugt und erinnerte mich oft an die Zeit zurück, da alles noch in Ordnung gewesen war. Der Unfall war nun fast zwei Jahre her, aber ich meine nicht unbedingt die Zeit direkt vor dem Unfall, sondern vielmehr die Zeit, die noch lange davor lag. Den Abschnitt meines Lebens, in dem tatsächlich alles vollkommen war, ich eine Familie hatte und noch nicht wusste, dass ich irgendwann elendig an einer unheilbaren Krankheit krepieren würde. Doch nun wusste ich es, und es brachte nichts, darüber nachzudenken. Es war ein eisiger Winter, mit Bergen von Schnee, sodass ich eigentlich nie nach draußen kam. Ab und an kam Alex, ob privat oder zum Hausbesuch, spielte keine Rolle. Das Wetter bremste mich allerdings aus, ich verfiel langsam in den alten Trott, dass mir alles egal wurde und ich konnte mich nur schwer dagegen wehren, mich einfach gehen zu lassen. Aber dieses Kapitel war Geschichte. Mein Kämpferinstinkt hatte sich eingestellt und wenn ich es schon nicht für mich tat, dann wenigstens für Alli und Alex. Ich hatte migräneähnliche Kopfschmerzen, die mich beinahe in den Wahnsinn trieben und Rückenschmerzen, wie ich sie früher bei alten Leuten behandelt hatte. Nicht gerade nette Aussichten, aber ich kann damit leben, muss damit leben. Was für eine Wahl hätte ich denn? Nicht die Geringste! Es heißt doch immer, dass der Mensch in seinem Denken und Handeln nicht beeinflusst werden soll und seine freien Entscheidungen treffen kann. Eigentlich stimmt das nicht. Man ist zwar dazu befugt, aber man hat in Wirklichkeit keine Wahl, nicht die geringste. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie einen Gott, auch wenn ich noch nie so recht daran glauben konnte. Ein Mann mit einem langen, weißen Bart, der auf einer Wolke sitzt? Wie soll ich ihn mir vorstellen? Ich weiß, Sehen heißt nicht Glauben, Glauben heißt Sehen, aber in diesem Falle geht es einfach nicht. Ich kann nicht blindlings einem Gott vertrauen, von dem nicht der geringste Beweis vorliegt, dass es ihn gibt. Es wäre das gleiche, als wenn ich einem Bankräuber meine Handtasche gebe und sage, dass er darauf aufpassen soll, während ich auf die Toilette gehe. Also doch kein Vertrauen in andere setzen… Je mehr ich darüber nachdachte, desto unmöglicher und entfernter erschien mir die Antwort. Konnte man wirklich vertrauen? Woher wusste man, ob man wahrlich vertrauen kann, oder ob alles nur Fassade ist? Nur nach dem Gefühl urteilen? Ich konnte mir selbst nicht erklären, was in mich gefahren war. Früher hatte ich mir nie Gedanken über solche philosophischen Fragen gemacht, denn ich kannte die Antwort wohl schon vorher: Es gab einfach keine. Aber jetzt hatte ich die Zeit dazu und versuchte sie zu nutzen.

In meinen ganzen Erzählungen über die Poesie und die Philosophie, habe ich doch glatt das Wichtigste vergessen. Alli hatte es mir erzählt, als sie einmal früher nach Hause gekommen war. Sie war im Supermarkt gewesen. Ein kalter, stürmischer Tag, wie sie es zu Hauf in jenem Winter gab. Ich habe keine Ahnung, ob es sehr romantisch ist, jedes Detail zu erwähnen, denn eigentlich klingt es lächerlich, wenn es nacherzählt wird. Ich will es trotzdem versuchen. Alli bleibt also an dem Regal mit den Konservendosen stehen, greift nach einer Büchse Kartoffelsuppe und reißt sie einem jungen Mann auf der anderen Seite des Regals aus der Hand, der auch gerade danach gegriffen hatte. Und wie im Märchen verlieben sie sich ineinander und leben glücklich, bis an ihr Lebensende. Nein, ganz so dann auch nicht. Sie waren dann auf jeden Fall in einem gemütlichen Schnellimbiss und haben zusammen gegessen, um anschließend zu Alli nach Hause zu gehen. Ende der Geschichte. Ich denke, dass sie sich immer noch treffen, aber Alli streitet es ab, was ich absolut nicht verstehen kann. Ich dachte immer, wir würden uns gegenseitig vertrauen, wobei wir wieder beim Thema wären: Was ist Vertrauen? Aber jetzt Schluss damit!

„Gehn wir heute Abend irgendwo hin?“ Alex Stimme klang durch den Telefonhörer, als ich endlich bei dem klingelnden Handy angekommen war, das in der Küche lag. „Ich… bin nicht sicher. Ich hab Kopfschmerzen und überhaupt… Es ist saukalt draußen.“ Die Vorstellung, durch den Schneesturm zu kommen, ließ mich frösteln und ich zog automatisch den Reißverschluss meines Pullovers bis unters Kinn zu. Die kleinen weißen Flocken klebten zu tausenden an der Fensterscheibe und versperrten den Blick auf die Straße. Trotz, dass es erst früher Nachmittag war, fing es bereits an zu dämmern und die Straßenlaternen schalteten sich ein. „Remy, komm schon. Wenn du nicht raus willst, dann komm ich eben zu dir und wir kochen uns ein paar leckere Nudeln, was hälst du davon?“ Ich war nicht sicher, ob ich Alex hier haben wollte. Zum einen war ich glücklich darüber, dass ich den Abend nicht allein verbringen musste, weil Alli nicht da war (angeblich auf der Arbeit…), aber zum anderen hätte ich auch gern ein paar Stunden für mich. Nein, ich war schon genug ohne Gesellschaft. „Ja, gut. Aber bitte fahr vorsichtig, ja?“ Als ich aus dem Fenster blickte, kam die Sorge in mir hoch. Man konnte wahrscheinlich keine 50 Meter schauen, so dicht wirbelten noch immer die Schneeflocken durch die Luft. „Immer, das weißt du doch.“ Ja, ich wusste es. Ich wusste es ganz genau. Aber man konnte nie vorsichtig genug sein. „Bis dann.“ Ich legte auf und öffnete den Küchenschrank. Ein bisschen Vorbereitung konnte ja nicht schaden. Die Nudeln lagen natürlich wie immer ganz oben im Regal, sodass ich lediglich ein paar Teller und Besteck auf den Tisch stellen konnte. Etwa gegen fünf Uhr klingelte es an der Türe und ich öffnete sie erwartungsfroh. Draußen stand allerdings nicht Alex, was mein freudiges Lächeln sofort ersterben ließ. Es war der Junge aus dem Nachbarblock, wenn ich mich recht erinnere. Aber egal welcher Junge es war, das spielte im Moment keine Rolle, denn sein Anblick ließ mir augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren. Über sein blasses Gesicht liefen dünne Rinnsale von Blut, aus einer Platzwunde am Kopf, wenn ich es in dem schummrigen Licht richtig erkennen konnte. „Entschuldigen Sie die Störung, Miss, aber ich wusste, dass Dr. Cameron hier wohnt und…“ Seine Hand zitterte, als er sein Taschentuch aus der Jacke zog und sich damit übers Gesicht wischte. Ich packte den vollkommen verstörten Jungen am Ärmel und schob ihn vor mir in die Wohnung. „Ich bin auch Ärztin. Ich heiße Remy und du bist… Du bist Peter, oder?“ Der Junge nickte und ich wusste nun, wo ich ihn zuzuordnen hatte. Nachdem ich die Arzttasche aus dem Badezimmer geholt hatte, versuchte ich ihn zum Reden zu bringen, während ich die Wunde an seinem Kopf verarztete. „Wie ist das denn passiert?“ Einige Minuten sagte er gar nichts, sondern starrte mich einfach nur an, doch nach einer Weile hob er zu einer Antwort an. „Ich war mit meiner Oma einkaufen. Sie wurde überfallen.“ Geschockt richtete ich mich auf und schaute ihm eindringlich in die Augen, was die Wirkung hatte, dass er den Kopf einzog. Ich hatte vergessen, dass ich diesen Effekt schon bei Kindern erzielt hatte, als ich noch im Krankenhaus gearbeitet hatte. Wenn wir also Patienten im Kindesalter behandelt hatten, war immer Alli dort gewesen. Bin ich tatsächlich so furchteinflößend? „Und was ist mit deiner Oma?“ Er hob den Kopf und schaute mich mit seinen großen, treuen Augen an. „Ich bin weggelaufen und hab mich versteckt und dann kamen ein paar Leute, die der Oma geholfen haben und die haben dann auch einen Krankenwagen gerufen und die Polizei und sie mitgenommen.“ Ich nickte abwesend und sagte ihm, er solle sich auf die Couch legen. „Sind deine Eltern zu Hause?“ Er schüttelte den Kopf, was ich schon befürchtet hatte. Warum auch sonst sollte er zu den Nachbarn gehen, die er nur im Treppenaufgang manchmal sah und mit denen er noch nie mehr als einen Gruß ausgetauscht hatte. „Na gut… Ruh dich erstmal aus, ich werd inzwischen versuchen, herauszufinden, was mit deiner Oma ist.“ Kaum hatte ich ihm meine Wolldecke um die Schultern geschlungen, war er auch schon eingeschlafen und ich beobachtete ihn noch kurz und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Meine Schwäche für Kinder kam wieder ans Licht und ich verscheuchte den Gedanken aus meinem Kopf, der drohte, sich in mein Herz zu bohren: Ich werde nie Kinder haben. Ich schluckte die aufkommende Enge in meinem Hals hinunter und ging in die Küche, um zu telefonieren. Als ich fertig war, wusste ich folgendes: Peters Großmutter war ins Princeton Plainsboro gebracht worden und es ging ihr soweit gut. Am nächsten Morgen wollte ich den Kleinen zu ihr bringen. Wenig später schrillte auch schon erneut die Klingel und ich öffnete, wobei ich vollkommen vergessen hatte, dass Alex kommen wollte. Das erste, was ich von ihm sah, war ein großer Rosenstrauß, den ich kurz darauf auf dem Schoß liegen hatte. „Alex, du bist… schon da.“ Ungläubig sah er mich an. „Ich hab dich vor zwei Stunden angerufen.“ Ich drehte mich um und schaute auf die Uhr, die im Flur hing. Er hatte recht. „Ich war so mit dem Jungen beschäftigt, dass ich die Zeit vollkommen vergessen habe und außerdem bin ich…“ „Was denn für ein Junge?“ In kurzen, schnellen Sätzen schilderte ich ihm die Lage und das Erste, was er sagte, war „Na dann lass uns kochen, er hat bestimmt Hunger, wenn er aufwacht.“ Genau das liebte ich an Alex. Seine Spontanität und seine Äußerungen, die eigentlich gar nicht lustig waren, die mir aber immer ein Lächeln aufs Gesicht zauberten. Während ich die Tomaten zusammenschnitt, rieb Alex den Käse. Es duftete in der ganzen Wohnung nach kochenden Nudeln, ein nicht gerade außergewöhnlicher Geruch bei uns, da sie zu unserem Grundnahrungsmittel gehörten. „Wie war dein Tag?“ „Ganz normal. Keine spektakulären Aktionen. Darum brauch ich ja Abwechslung und hätte keine deiner Ausreden auch nur annähernd akzeptiert.“ Ich ließ das Messer sinken und gab ihm einen Kuss, der den Geschmack von Käse auf meine Lippen brachte. „Hast du genascht?“ Mit einem tadelnden Blick sah ich ihn an. „Man muss doch mal kosten. Gehst du mal den Jungen holen? Das Essen ist gleich fertig.“ Ich verließ die Küche und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Leise drückte ich die Türklinke nach unten und schielte durch den Türschlitz, der sich auftat, als ich sachte gegen das Holz drückte. Peter war wach und schaute sich in Allis Wohnzimmer um. Seine kleinen Kinderaugen irrten an den Wänden entlang, sein Blick streifte Fotos und kleine Figuren, die in den Regalen standen, meine Bücher, die ich hütete wie einen Schatz und noch jedes weitere kleine Detail, dass man finden konnte. „Es gibt Essen.“ Trotz, dass ich genau wusste, dass Peter nicht mehr schlief, flüsterte ich nur. Es lag eine solche greifbare Stille im Raum, die ich nicht zerstören wollte. Wortlos nickte er mir zu. Trotz, dass er schon zwölf war, wirkte er noch vollkommen kindlich. Seine Augen blickten neugierig drein und sein Haar war stets zerzaust. Als wir am Tisch saßen, hatte ich plötzlich keinen Appetit mehr, geschweige denn Hunger. Immer wieder blieb mein Blick an Peter haften und ich schaute ihm bei jeder Bewegung seinerseits zu. Ich erinnerte mich an meine Kindheit zurück: Ungezwungen, frei. Zumindest als es meiner Mutter noch nicht zu schlecht ging. Ich hatte aber schon immer ein viel besseres Verhältnis zu meinem Vater gehabt. Nach dem Essen waren wir zusammen aufgesprungen und hatten im Garten Verstecken gespielt, oder wir saßen einfach nur zusammen und haben geredet, oder uns nur angesehen. Die Stille war uns heilig gewesen. Aber eigentlich war das jetzt auch egal. Warum den alten Gedanken nachhängen, wenn nur das Hier und Jetzt zählt? „Remy, willst du nichts essen?“ Alex unterbrach meine Gedankengänge, wie so oft. „Ich… Doch.“ Nur widerwillig schob ich mir die Gabel in den Mund.

Das Essen schien ewig zu dauern. Als wir allerdings endlich fertig waren, ging ich ins Gästezimmer und überzog das Bett. Erst, als hinter mir die Scharniere quietschten und ich erschrocken herumfuhr, bemerkte ich, dass Peter in der Türe gestanden hatte. „Was tust du denn hier?“ Die Frage klang barscher als beabsichtigt. „Ich wollte nur… Ich hab mich nur umgeschaut. Wohnen Sie schon lange hier?“ „Fast eineinhalb Jahre.“ „Ich hab Sie hier nämlich noch nie gesehen.“ „Jetzt komm schon, das ist doch nur eine Ausrede. Ich hab dich schon oft genug gesehen. Also, was machst du hier?“ Mit betretener Miene stand er vor mir und starrte auf seine Fußspitzen, wie ein geprügelter Hund. Nach einem Seufzer kam die Frage, die ich am wenigsten erwartet hätte. „Werden Sie sterben?“ Ungläubig starrte ich ihn an. Ich hatte die Frage gehört, konnte aber nicht glauben, dass er sie tatsächlich gestellte hatte. „Wie… kommst du denn darauf?“ „Mein Daddy konnte auch nicht mehr laufen und zwei Jahre später ist er gestorben.“ Wortlos zog ich Peter an mich heran und ließ ihn auf meinem Schoß Platz nehmen. „Peter, dein Vater war schwer krank. Und ich hatte einen Autounfall und kann deshalb nicht mehr laufen. Das sind zwei vollkommen verschiedene Dinge.“ In meinem Inneren wütete es unaufhaltsam. Ich konnte nur schwerlich eine sichere Stimme bewahren, denn ich wusste genau, dass ich ausgemachten Unfug erzählte. Natürlich werde ich sterben. Wie wir alle: Früher oder später, auch wenn es bei mir nur noch wenige Jahre dauern würde, kommt für jeden von uns der Punkt, an dem das Leben vorbei ist. Und wieder einmal greife ich in Gedanken auf einen Spruch zurück: ‚Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.‘ Ich fing langsam an, zu akzeptieren, dass mir nur ein kurzes Leben auf Erden vergönnt war. Es war bedeutend leichter, als die unzähligen schlaflosen Nächte, in denen man sich den Kopf darüber zermarterte, was werden würde, wie es weitergehen sollte. Vor einigen Jahren war der Höhepunkt erreicht gewesen. Ich drohte an den inneren Stimmen, die mir immer und immer wieder zuflüsterten, was ich schon längst wusste, zu zerbrechen. „Wann ist dein Daddy denn gestorben?“ „Das ist lange her. Da war ich sieben.“ Ich nickte vor mich hin. „Meine Mum ist auch gestorben, als ich sieben war. Aber du hattest doch deinen Dad bestimmt furchtbar gerne, oder?“ Er nickte mir zu und ich fuhr fort. „Na siehst du. Wenn du ihn so gern hattest, dann lebt er für dich immer weiter, in deinem Herzen. Ich konnte meine Mum nie leiden. Ich habe sie gehasst und bereue es bis heute.“ Verständnislos sah Peter mich an. „Sie haben sie gehasst? Aber seine Eltern kann man doch gar nicht hassen.“ „Doch, Peter. Sie war… Anders als alle anderen Mütter. Ich hatte deswegen keine Freunde, weißt du. Aber damals habe ich es einfach noch nicht verstanden. Aber du verstehst es und wirst deinen Daddy niemals vergessen.“ Ich schien erreicht zu haben, womit ich nie gerechnet hatte, nämlich einem Kind begreiflich zu machen, dass der Tod nichts Endgültiges ist, solange es noch Menschen gibt, die nicht aufhören zu lieben. Zu oft hatte mein Vater mir erklärt, welche beiden Bedeutungen ‚für immer‘ hatte und ich hatte es nie verstanden. Heute wusste ich, was er meinte: Nach dem Tod ist ein geliebter Mensch für immer fort, doch er wird in uns weiterleben, auf ewig. Peter rutschte von meinem Schoß und lief gedankenverloren in den Flur hinaus. Ich starrte noch lange auf die glatte Türe, die hinter ihm ins Schloss gefallen war, bevor ich meine Arbeit fortsetzte. Noch immer war ich davon überwältigt, wie ich meine Gedanken einem zwölfjährigen Jungen gestanden hatte. Noch nie habe ich irgendjemanden daran teil haben lassen. Plötzlich öffnete sich die Tür erneut, diesmal jedoch, stand Alex im Zimmer. „Was hast du mit dem Jungen angestellt? Der ist plötzlich gar nicht mehr so schüchtern.“ Mit einem vielsagenden Lächeln kam ich auf Alex zu und zog ihn in meine Blickhöhe, zwang ihn also regelrecht in die Knie. „Ich liebe dich, egal was passiert, ok?!“ Er schien nicht überrascht zu sein, dass ich ihm so unerwartet meine Gefühle für ihn eröffnete. „Ja, ich weiß. Ich liebe dich auch und werde es immer tun. Das verspreche ich dir.“ Und dann kam der Höhepunkt meines Lebens: Alex legte meine Lieblings-CD ein, nahm mich auf den Arm und so tanzten wir durch das Schlafzimmer, eng umschlungen, als ob wir einander niemals mehr loslassen wollten.

Hier endet meine Niederschrift. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, seit dem Unfall und ich habe mich wieder ins soziale Leben eingegliedert. Mit meinem gesundheitlichen Zustand geht es allerdings Woche für Woche drastisch Berg ab und ich kann durch die Folgen meiner Huntington nicht mehr arbeiten. Trotzdem ist Alex bei mir geblieben und gibt mir immer wieder Kraft, auch wenn ich vollkommen am Boden bin und es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Sogar in seinem Job tritt er meinetwegen kürzer. Er arbeitet nur noch halbtags, damit er früher zu Hause ist und sich um mich kümmern kann. Peter ist seit dem angesprochenen Tag ein enger Freund von uns und kommt fast täglich zu Besuch, auch wenn er inzwischen Teenager ist und teilweise von seinen Freunden für seine Besorgnis um mich verspottet wird. Ich wohne noch immer bei Alli und sie ist nun tatsächlich mit dem Mann aus dem Supermarkt zusammen, offiziell. Wir haben uns also eine Art WG aufgebaut. Und bei einer Sache bin ich mir ganz sicher: Wir werden solange Freunde bleiben, wie wir leben und noch darüber hinaus. Denn die Liebe zwischen Menschen kennt keine Grenzen und nicht einmal der Tod vermag dieses Band zu zerstören. So ist es und so wird es immer sein, auch wenn wir alle zusammen schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen werden. Die Liebe und Erinnerung stirbt nie.
Zuletzt geändert von Remy Hadley am Mi 17. Nov 2010, 22:27, insgesamt 2-mal geändert.
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"You spend your whole life looking for answers, because you think the next answer would change something, maybe make you a little less miserable. And you know that when you run out questions, you don't just run out of answers. You run out of hope. You glad you know that?"(13)

“There is a sacredness in tears. They are not the mark of weakness, but of power. They speak more eloquently than ten thousand tongues. They are messengers of overwhelming grief...and unspeakable love.”(Irving)